Die Tibeterin
Hochbetrieb. Wir gedenken des Schutzpatrons unseres Klosters, des ehrenwerten Lodrô Tso-gyal Rimpoche, mit einem Mandala-Ritual. Das bringt Aufregung in unser beschauliches Leben«, setzte er mit nachsichtigem Kopfschütteln hinzu. »Die Novizen sind etwas übermütig.«
Zwei junge Mönche trugen Zinngefäße mit gezuckerter Yakmilch als Willkommenstrunk. Ich kostete die Flüssigkeit; sie schmeckte scharf, kam mir jedoch nach der langen Reise wunderbar erfrischend vor. Gleichzeitig war ich überrascht und bewegt, daß der Abt eine wichtige Zeremonie verließ, um uns wie Ehrengäste zu empfangen.
Daß Atan ein Anführer der Rebellen war, wußte ich ja, jetzt wurde mir klar, daß seine Stellung innerhalb der Bewegung bedeutend sein mußte. Ich fühlte plötzlich Schmerz auf mir lasten. Nur freie Menschen können sich verschenken, und er tat es von ganzem 408
Herzen. Aber eines Tages würde er mich verlassen. Nicht wegen einer Frau, nein, wegen der Herausforderung, der lebenslangen Unrast - oder wegen Tibet. »Er wird dich unglücklich machen«, hatte Karma gesagt. Sie hatte geahnt, daß ein schweres Schicksal vor mir lag, ohne zu wissen, welche Form es annehmen würde. Die Leute denken meist über Worte gar nicht nach, ich auch nicht. Daß Leidenschaft so weh tun konnte, hätte ich nicht gedacht. Es war unlogisch, völlig verkehrt und gefährlich obendrein. Nimm dich zusammen, Tara. Der Mann kommt aus dem Land der Meteore, der Katastrophen. Er macht dich mondsüchtig und gierig wie eine Katze im Frühsommer. Schlaf mit ihm, solange du kannst, und vergiß deine sentimentalen Regungen.
Tukten Namgang entschuldigte sich: der Feierlichkeiten wegen sei das Kloster von lokalen Würdenträgern überfüllt. Atan könne jedoch im Gemeinschaftsraum schlafen. Als Frau war mir nicht gestattet, im Kloster zu übernachten, aber der Abt sicherte mir eine Unterkunft im Dorf zu. Ich war zerschlagen und durchgefroren und freute mich, daß ich endlich wieder in vier Wänden übernachten konnte. Nachdem das geregelt war, lud uns der Abt ein, an der Zeremonie teilzunehmen. Wir gingen, geschoben und umdrängt von den Pilgern, bis zu einem großen gepflasterten Innenhof. Es schien fast unmöglich, durch das Tor hindurchzukommen. Doch zwei Mönchswachen hielten die Pilger mit behutsamer Gebärde zurück, so daß sich vor uns eine Gasse bildete. Der Innenhof war von einer hölzernen Galerie umgeben, die ziemlich morsch aussah. Ein aufgeblähtes weißes Zeltdach dämpfte die Bergsonne, tauchte alle Gesichter in helles, verschwommenes Licht. Die Luft war erfüllt vom Murmeln der Gebete, vom friedvollen Surren unzähliger Gebetsmühlen. Die beiden Mönchswachen gingen voraus; die Menschen traten stumm beiseite. Aus allen Gesichtern sprach Liebe, Andacht, tiefe Verehrung. Die Hofmitte war mit fein geharktem Sand bestreut. Einige Mönche knieten dort. Sie trugen dunkelrote Gewänder; eine gelbe Schärpe war um ihre Schultern geschlungen.
Die Mönche hatten kleine Röhrchen in der Hand, die feinkörnigen bunten Sand enthielten. Mit einem winzigen Holzstab führten sie sachte über die geriffelte Oberseite des Röhrchens, so daß der Sand in einem feinen Strahl herausrieselte. Sie trugen Mundbinden, um das Kunstwerk nicht mit ihrem Atem zu gefährden. Auf diese unendlich langsame, geduldige Art hatten sie ein farbenreiches, geometrisches Muster aus buntem Sand geschaffen, in sich präzise 409
abgegrenzt und von atemberaubender Schönheit, einer traumhaften Stickerei ähnlich. Der Abt las die Bewunderung in meinem Blick und machte sich trotz des Lärmpegels die Mühe, mir Erklärungen zu geben. In Abwesenheit Seines Heiligkeit hatte er das Amt des
»Varjia-Meisters« zu übernehmen. Zuvor hatte er den Ort meditativ gereinigt, indem er im Zentrum des Hofes die zehn »zornigen Gottheiten« aus sich herausströmen und in einen Ritualdolch eingehen ließ. Dann hatte er mit einer weißen, in genäßten Kalk getränkten Schnur die Hauptlinien des Mandalas gezeichnet. Denn ein Mandala konnte nie improvisiert werden; das Grundgerüst der Linien war unabänderlich. Das Erschaffen hatte vier Tage in Anspruch genommen. Jede Farbe stand für eine Himmelsrichtung: Schwarz für Osten, Rot für Süden, Gelb für Westen, Weiß für Norden.
»Nach dem Zeichnen der Hauptlinien«, erläuterte der Abt, »hat der Vajira-Meister die Stellen vorbereitet, in denen die angerufenen Gottheiten niederfahren werden. Ein Mönch wird mit Safranwasser die entsprechenden
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