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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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bestimmte, aber diesmal ließ ich ihn gewähren. Mein Atem flog. Ich hielt die Augen geschlossen, was ich sonst nie tat, blickte nach innen, auf der Suche nach fernen Bildern. Jetzt versteiften sich Romans Muskeln; seine Zuckungen waren überall in mir. Sein Herz pochte, während das Erschauern sich durch seinen ganzen Körper zog, und vor mir sah ich eine Feuergestalt glühen.
    »Irgendwie finde ich die Worte nicht…«
    Ich dachte, ich müßte sehen können, was diese Sache da zu bedeuten hatte. Doch während ich hinsah, verblaßte die Feuergestalt, löste sich auf zu einer schwach leuchtenden Spiegelung und erwies sich als ebenso substanzlos wie meine Gedanken.
    »Ich begreife das nicht.«
    »Was sagst du, Tara?«
    Roman war erschöpft. Er stützte sich auf die Ellbogen; sein helles Gesicht glänzte in der Dunkelheit, naß vom Schweiß.
    »Nichts… ich habe nichts gesagt.«
    Sein Brustkasten hob und senkte sich.
    »Wie war’s, Schätzchen? Bist du gekommen?«
    Seltsam, dachte ich, daß es ihm immer um die Leistung geht. Ich lächelte ihn an.
    »Aber natürlich. Selbstverständlich.«
    Er war immer noch in mir. Ich streichelte sein klebriges Haar. Sein Kopf lag schwer auf meiner nackten Brust. Draußen bellte ganz nah ein Hund; ein anderer gab Antwort, unerwartet und von fern erklang 76
    weiteres Gebell, widerhallend von Gasse zu Gasse, wie die vielfältigen Stimmen der schwarzen Nacht, atemberaubend und unheimlich. Etwas später lärmte eine Touristengruppe in den Korridoren; der Holzboden knarrte, Schlüssel klapperten, Türen wurden aufgeschlossen und wieder zugeknallt. Ersticktes Gelächter und Stimmen drangen durch die Wände.
    »Woran denkst du?« brach Roman das Schweigen.
    Ich blickte mit starren Augen in die Dunkelheit.
    »An das, was mein Vater gesagt hat.«
    Mein Arm wurde steif. Ich bewegte mich. Auch Roman bewegte sich. Er löste sich von mir, setzte sich auf und knipste das Licht an.
    »Was hat er denn gesagt?«
    Ich blinzelte, legte die Hand über die Augen.
    »Ach, nichts von Bedeutung. Er ist nicht mehr klar bei Verstand, weißt du… «
    77

9. Kapitel

    K inder sehen jede Einzelheit mit überdeutlicher Schärfe, auch wenn sie den Anschein erwecken, daß sie Tagträumen nachhängen.
    Ihre Wahrnehmung ist sehr bewußt. Die Überlagerung durch Erfahrungen, die damit verbundene Konfusion, kommen erst später.
    Meine Erinnerungen an Kathmandu waren erstaunlich klar. Worauf dieses tiefe, vertraute Gefühl beruhte, konnte ich nicht sagen; unser Gedächtnis besteht aus vielen Schichten. Aber aus meiner Sicht war es ganz selbstverständlich, daß ich mich erinnerte und zurechtfand.
    Onkel Thubten und seine Familie hatten damals in Bodhnath gewohnt, einem Randbezirk unweit des Flughafens. Karmas letzter Brief trug immer noch diese Adressen. In Bodhnath erhob sich der höchste Stupa Nepals. Viele Exiltibeter hatten sich im Laufe der Jahre dort niedergelassen. Mit etwas Glück würde ich mich schon zurechtfinden. Ich ließ ein Taxi kommen. Wir fuhren über die Brücke, die von Geschäften flankierte New Road entlang und dann über den Basantpur weiter nach links. Kathmandu war zu jeder Tageszeit ein Chaos, aber frühmorgens war es besonders schlimm.
    Altersschwache Autobusse, mit Menschen vollbepackt, mörderisch stinkende Lastwagen, Motorräder, Handwagen, Fahrräder und Rickschas drängten sich auf engstem Raum, darüber Geschrei, heiser oder schrill, ohrenbetäubendes Radiogeplärr und das ungeduldige Hupen wartender Wagen. Wir kamen nur im Schrittempo vorwärts und standen bald eingekeilt in einem Stau. Der Fahrer stieß resignierte Grunzlaute aus, steckte sich eine Zigarette an. Die Sonne schien prall auf die Windschutzscheibe, die stickige Luft trieb uns den Schweiß aus den Poren. Ich sagte: »Ich glaube, wir sollten zu Fuß gehen.«
    Wir entschädigten den Fahrer, stiegen aus und traten aus der Gluthitze in den weichen, kühlen Schatten, überquerten ein paar Straßen und stellten bald fest, daß Bodhnath eine einzige Baustelle war. Die alten Gebäude mit ihren bröckelnden Schnitzereien, verfault und grau vor Moder, wurden abgerissen. Frauen in Saris schleppten Backsteine, zerlumpte Arbeiter mischten Zement mit der Kelle, rostige Pfeiler ragten als Skelette auf. Kaum stand ein Haus mit noch nassem Verputz, wirkte es schon verkommen. Die schummrigen Läden im Erdgeschoß waren zum Bersten voll. Ein Durcheinander von Geschirr, japanischen Elektroapparaten, 78
    Schuhen, Strümpfen, Unterwäsche in

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