Die Tibeterin
seine Schulter waren glatt und braun wie Erz. Die Würde war ihm angeboren, er konnte keine ungeschickte Bewegung machen.
Doch der Heilige Lama hatte Hunger – wir hörten, daß sein Magen knurrte. Die Übungen im Kloster beginnen vor Tagesanbruch; ich war etwas beschämt, daß er unseretwegen sein Mittagessen warten ließ. So verlor ich keine Zeit mit Floskeln und erzählte ohne Umschweife, warum ich hier war. Dondup Trungpa schenkte mir echtes Interesse. Er hatte ein gewinnendes Lächeln, bei dem er den 82
Kopf ein wenig zur Seite legte. Es stellte sich heraus, daß er Europa gut kannte, daß manche mir vertraute Namen auch ihm durchaus geläufig waren. Wir sprachen Tibetisch; mit Rücksicht auf unseren Gastgeber verzichtete ich auf Übersetzung. Roman fragte auch nicht und verhielt sich sehr formell; er saß im Schneidersitz, den Rücken kerzengerade, eine verkrampfte Haltung, zu der Europäer sich in Gegenwart asiatischer Würdenträger oft genötigt fühlen. Dondup Trungpa ließ Orangensaft und Kabse bringen, ein Gebäck, das ich nicht mochte, aber aus Höflichkeit kostete. Die alte Tibeterin hatte sich nicht getäuscht: Es war schon so, daß alle Gerüchte zu den Mönchen drangen. Ja, Dondup Trungpa wußte, daß Karma Dolkar –
er nannte meine Cousine bei ihrem vollen Namen – ihren Laden verkauft hatte und von Jonten Kalon, einem berühmten Arzt, unterrichtet worden war. Jonten Kalon, erfuhr ich, führte den Titel Menrampa, was in Europa dem Rang eines Professors entsprach. Er hatte viele Jahre in einem chinesischen Gefangenenlager verbracht, weil er sich für die Menschenrechte eingesetzt und verletzten Demonstranten erste Hilfe geleistet hatte.
»Demonstranten haben keinen Anspruch auf ärztliche Betreuung«, sagte Dondup Trungpa mit gleichmäßiger Stimme. »Wenn die Chinesen in die Menge schießen, ist es besser, die Wunden sind tödlich. Denn die Verletzten sterben unter der Folter oder werden medizinischen Versuchen unterzogen.«
Die Ruhe, mit der er sprach, war erschütternd. Ich dachte auf einmal an Chodonla. Meine Kehle wurde trocken. Angesichts der nüchtern vorgebrachten Tatsachen stieg Furcht aus dem Grund meiner Seele, bedeckte mich wie eine Haut aus Eis. Vergeblich rang ich nach Worten, bis Roman beunruhigt das Schweigen brach:
»Hat er etwas Besonderes gesagt?«
Seine Frage brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich trank einen Schluck, dann faßte ich das Wesentliche in zwei Sätzen zusammen.
»Herrgott!« murmelte Roman und wurde blaß. Dondup Trungpa nickte ihm zu, voller Nachsicht. Sein Gesicht verriet mir, daß er längst aufgehört hatte, sich über menschliche Grausamkeit mit großem Geschrei zu empören. »Es gibt Güte, und wie die Welt nun einmal ist, beweist das, daß die Götter leben. In jedem Menschen sollten wir einen Geist sehen, der Erleuchtung sucht.«
Und weiter sagte er, Jonten Kalon habe schon immer das Schwergewicht seiner Heilungen auf Kräutermixturen gelegt. Die 83
Präzision seiner Diagnose sei unfehlbar gewesen. Nur ausgewählte Schüler lehrte er seine Kunst. Karma Dolkar hatte er zehn Jahre lang unterrichtet. Und es hieß, er habe sie zu seiner Nachfolgerin bestimmt und viele seiner Geheimnisse an sie weitergegeben.
»Wo ist sie jetzt?« fragte ich.
Dondup Trungpa legte den Kopf zur Seite, zeigte sein lebhaftes, jugendliches Lächeln.
»Das Beste ist wohl, wenn Sie den Ehrwürdigen Doktor selbst fragen. Sein jüngerer Bruder, der Heilige Gyatso Tonpa, ist Abt des Tritan Norbutse Klosters. Jonten Kalon hat sich dorthin zurückgezogen.«
Der Menrampa sei inzwischen neunzig Jahre alt, fuhr er fort. Er unterrichtete nicht mehr, aber empfange noch Patienten. Seine Worte brachten mich in die Welt der Hoffnung zurück, aus meiner dunklen Angst in das Licht der Zuversicht, der Möglichkeiten und Chancen.
»Wie kommen wir zu diesem Kloster?« Nun, das sei nicht schwer.
Die Gompa befand sich zwei Autostunden von Kathmandu entfernt.
Wir sollten ein Taxi nehmen, einen Tagespreis ausmachen und gut aufpassen, daß wir nicht übers Ohr gehauen wurden. Dondup Trungpa lachte jetzt frei heraus und wünschte uns viel Glück. Wir sollten dem Ehrwürdigen Menrampa Grüße von ihm ausrichten sowie die dringende Bitte, mit seinen Kräften schonend umzugehen.
Wir dankten ihm und entschuldigten uns, daß wir seine Zeit in Anspruch genommen hatten, zumal ein junger Mönch mit besorgtem Gesicht an der Tür stand; offenbar wurde die Suppe kalt. Dondup Trungpa bewegte
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