Die Tibeterin
es, als bestehe der Bau aus einem Teil des Berges selbst. Unterhalb des Klosters, inmitten eingefriedeter Äcker und Gärten, lag ein kleines Dorf. Thapa lenkte den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Wir stiegen aus. Thapa deutete auf einen Pfad, der in Windungen empor führte. Wir begannen den Aufstieg. Der 86
Pfad führte eine Schlucht entlang, in der ein Wildbach schäumte. An einigen Stellen hatte man Stufen in den Felsen gehauen. Wir schleppten uns keuchend hinauf. Der Wind wehte uns Sand in die Augen.
»Oh, dieser Weg hat es in sich!« ächzte Roman.
Wir standen und schnappten nach Luft. Ich lachte atemlos.
»Weit vom Schuß widersteht man den Versuchungen dieser Welt.«
Das Kloster hing über uns wie eine phantastische Kulisse, eine Bastion aus einer anderen Welt. Auf einmal regte sich etwas in mir, undeutlich zwar, ein altererbtes Wissen. Und als ob Thapa in meinen Gedanken las, nickte er mir zu, mit einem kleinen Lächeln in den Mundwinkeln.
»Tritan Norbutse ist ein Bon-Kloster.«
»Ach«, murmelte ich. Es war ein Gefühl in mir – weder angenehm noch unangenehm-, das ich nicht identifizieren konnte. Irgendwie hing es mit meinem Vater zusammen. In dieser windgepeitschten Weite war er mir ganz nahe, viel näher, als ich ahnen konnte.
»Was ist ein Bon-Kloster?«
Romans Frage brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn.
»Bon ist die alte Religion Tibets, sie war schon vor dem Buddhismus da. Sie stützt sich auf die Lehren der Schamanen, auf die Urerfahrung der Menschen also. Götter und Dämonen sind ja nichts anderes als die Darstellungen seelischer Vorgänge. Aber im Westen wurden diese Urbilder erst mit dem Aufkommen der modernen Psychoanalyse wieder beachtet.«
»Mir scheint, hier war man weitsichtiger.«
»Das Denken war der Elite vorbehalten, das ist auf der ganzen Welt so. Aber es verstopften keine moralischen Scheuklappen den Zugang zum Psychischen.«
Wir zogen weiter. Der Wind trug uns die Stimmen der Mönche entgegen, die im Heiligtum sangen. Wir kletterten endlose Stufen empor, umgingen einen Felsen, und da kam ein gewaltiges Holztor in Sicht, mit Riegeln und Stangen versehen. Schlecht ausgebesserte Risse klafften an der Mauer: Der Bau hatte etliche Erdbeben überstanden. Große Gebetsmühlen aus Messing funkelten in den Nischen. Eine letzte Treppenfolge brachte uns in einen Innenhof, der von einer Galerie umgeben war. Von einem Stockwerk zum anderen führten Holzleitern, auf denen jetzt einige Novizen herunterkletterten, um uns zu begrüßen. Ein junger Mönch trat uns 87
höflich entgegen. Er war mager, drahtig und trug eine Brille. Ich erklärte den Zweck unseres Besuches. Der Mönch erwiderte, der Heilige Gyatso Tonpa sei gerade bei einer Kontroverse; wenn wir uns eine Weile gedulden könnten, würde er gerne mit uns reden. Ob allerdings sein Bruder, der Ehrwürdige Menrampa, in der Lage sei, Besucher zu empfangen, konnte er nicht sagen.
»Es geht ihm nicht gut, und er liegt meistens zu Bett. Aber wir werden ihm Ihre Ankunft melden.«
Wir folgten ihm, und Roman sagte:
»Ich finde es so leicht, mit dem Lamas umzugehen. Sie lassen Fremde ohne weiteres vor, das hätte ich nie gedacht.«
»Die Lamas leben in Abgeschiedenheit, nicht auf dem Mond«, sagte ich. »Und ich nehme an, daß sie die Abwechslung schätzen.«
Der Mönch führte uns durch den Hof auf das Hauptgebäude zu.
Wieder eine Tür, mit Eisenbeschlägen versehen. Ein Balken, im Boden eingelassen, kennzeichnete die Schwelle. Der Mönch ging voraus. Die dicken Mauern, die gelbe Farbe der Wände, die gewaltigen Balken verstärkten den Eindruck, daß wir uns in einer Festung befanden. Der Ort war nicht im geringsten unheimlich. Man hätte hier nur Stille erwartet; statt dessen brüllten uns Stimmen entgegen. Zwei hochgewachsene Mönche mit steinernen Gesichtern bewachten eine Tür. Auf dem Boden standen zwei Paar Sandalen, durchgewetzt und staubig. Unser Begleiter bat uns mit einer Geste zu warten. Ein karminroter Vorhang bedeckte den Eingang, aber die offenen Türflügel ließen die Stimmen in voller Lautstärke nach draußen schallen. Die eine war jung, eifrig und nervös, die andere kühl und belustigt. Das Wortgefecht erfolgte Schlag auf Schlag, wobei sich die jugendliche Stimme zunehmend hysterisch anhörte.
Roman sah mich perplex an. Es klang nach Streit, war aber keiner.
»Meinungsaustausch zwischen Lehrer und Schüler«, erklärte ich.
»Der Novize
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