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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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raschelnd seine Gewänder, erhob sich mit federndem Schwung. Eine Handbewegung, ein freundliches Lächeln; wir waren entlassen.
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10. Kapitels

    E s war halb sieben. In den frühen Morgenstunden war Wind aufgekommen. Gelbe Staubschleier wehten über die Straße, der Himmel leuchtete wie stumpfes Glas. Der Fahrer, der mit dem Taxi vor dem Eingang des Hotels auf uns wartete, war knapp zwanzig, hatte ein rundes Kindergesicht und lustige Augen. Er war Sherpa, hatte er uns stolz erzählt, und sein Name lautete Thapa Tsering.
    »Die Sherpas«, erklärte ich Roman, »gehören eigentlich zu den Tibetern, bilden aber eine Gruppe für sich. Viele arbeiten als Lastträger oder Bergführer. Sie sind besonders kräftig und zäh, stimmt das, Thapa?« Er lachte und bestätigte es. Ja, und er selbst machte keine Ausnahme, obwohl er die High-School besucht hatte und studieren wollte. Das Taxiunternehmen gehörte seinem Onkel.
    Der bekam die Hälfte des Geldes, den Rest legte Thapa auf die Seite, um sein Studium in Indien zu finanzieren.
    »Warum in Indien?« fragte Roman.
    Das nepalische Schulsystem sei antiquiert, meinte Thapa. Wer in Indien studierte, hatte im Beruf die besseren Chancen.
    Der Morgen war eiskalt, und Schwärme von Vögeln zwitscherten auf den Telefondrähten. Der Wagen holperte zwischen bröckelnden Mauern aus rotem Backstein die Straße entlang an Läden und Wohnhäusern vorbei, deren Türen weit offen standen, so daß man die unteren Räume sah, und Gestalten, die sich darin bewegten. Am Straßenrand begossen sich Frauen und Männer bei ihrer morgendlichen Waschzeremonie an den öffentlichen Brunnen mit Wasser. Bald erreichten wir Swayambudnath, den Lotushügel. Eine steile Treppe führte zum Tempelbezirk. Schon frühmorgens strömten Pilger die Stufen hinauf, zogen sich außer Atem am Geländer hoch, während heilige Affen zankend und kreischend über die Steine turnten. Unter sanft gleitenden Königskrähen träumten Buddhafiguren im Schatten alter Bäume, und die Gottheiten des Hinduglaubens erzählten ihre eigene Fabel. Wir fuhren weiter über Schlaglöcher, inmitten einer Prozession von Lastwagen, die mit grellfarbigen Plakaten, künstlichen Blumen und Flitter geschmückt waren wie Karnevalswagen.
    »Das sind ja chinesische Fahrzeuge!« bemerkte Roman überrascht.
    Ich nickte.
    »Die Chinesen machen mit Gebrauchtwagen gute Geschäfte.«
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    Zum Glück schwenkte der Weg bald ab. Wir fuhren durch eine Landschaft in lieblichen Pastellfarben. Die Obstbäume schüttelten sich im Wind, ein funkelndes Wasserband zog sich durch das Tal, und Schwalben schossen dicht über den Boden. Braune und gelbe Felder, wie Staffeln angelegt, senkten sich stufenförmig ins Tal.
    Frauen, in rote Saris gehüllt, legten Backsteine zum Trocknen aus.
    Die Straße, ständig steigend, wand sich in langen Schleifen durch die Hügel. Bald krochen wir im Schneckentempo vorwärts. Um Erschütterungen zu vermeiden, umging Thapa jedes Schlagloch. Die Federung quietschte, wir spürten bald sämtliche Knochen. Auch die Hitze im Wagen war mörderisch; kurbelten wir die Fenster herunter, schluckten wir Staub. Der Wind brauste, die Zündung bebte und spuckte.
    »Dieser Wagen schafft den Weg hinauf nicht!« stöhnte Roman.
    »Das glaube ich auch nicht«, pflichtete ich ihm bei.
    Doch Thapa grinste uns im Rückspiegel an; wir sollten uns keine Sorgen machen. Und wahrhaftig, bald hatten wir die Paßhöhe erreicht; die Straße schwenkte nach Westen ab, und vor unseren Augen öffnete sich eine weite, gelblich-flimmernde Hochebene.
    Soweit das Auge reichte, schien die Erde aus winzigen Terrassen zu bestehen, auf denen Bauern arbeiteten. In immer höheren Serpentinen führten enge Wege zu den Häusern aus roten Backsteinen. Kinder hüteten langhaarige Ziegen am Straßenrand.
    Große Pappeln bogen sich im Wind, das Laubwerk flimmerte wie Silber. Dunst verhüllte die Berge, und die gewaltigen Schneefelder waren nur ferne Schatten am Himmel. Wir dösten vor uns hin, benommen von der Hitze, bis der Weg plötzlich eine scharfe Kurve zog.
    »Tritan Norbutse!« rief Thapa vergnügt.
    Wir blickten in die Richtung, die er uns zeigte. Das Kloster klebte wie eine riesige Bienenwabe an der Bergflanke. Die steilen, leicht überhängenden Mauern waren in sattem Gelb gehalten. Die Südflanke ragte hoch über das Hochtal, während sich die Nordmauern an den Berghang lehnten. Das Dach war vergoldet, Gebetsfahnen flatterten im Wind. Von der Straße aus gesehen schien

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