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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Hand auf die Schulter.
    »Sei mir nicht böse, Tara. Ich bin etwas müde. Die lange Fahrt… «
    Er war in der Lage, freundlich zu sein, auch wenn ihm etwas nicht paßte. Ich wollte Romans Hand nicht abschütteln, bloß sanft ergreifen und wegschieben. Er war mir – im wahrsten Sinne des Wortes – im Weg.
    Wir gingen über den Innenhof, auf ein anderes Gebäude zu. Die Sonne schien heiß, der Wind wehte Staub empor. Unser Begleiter stieß eine Tür auf; ein Korridor führte zum rückwärtigen Teil des Gebäudes. Eine Tür standhalb offen; der Mönch kratzte daran mit zwei Fingern. Eine alte Stimme sagte ein paar Worte. Der Mönch trat ein und verbeugte sich. Wir taten es ihm nach.
    Der Raum war groß und hell und diente offenbar als Refektorium.
    Jedenfalls roch es nach Essen, und in der Mitte stand ein langer Tisch. Am Tischende saßen zwei Männer: Der eine war jung, hatte ein pockennarbiges Gesicht und grobe Züge, der andere war ein 92
    Greis. Seine Gestalt schien unter dem Mönchsgewand nur aus Haut und Knochen zu bestehen. Auch das wohlgeformte Gesicht war eingefallen. Die Haut voller Falten und Risse gleich einem sehr eng geknüpften Netz. Noch nie hatte ich ein Gesicht gesehen, das auf so edle Weise Trauer und Ruhe zeigte. Das kurz geschorene Haar war schneeweiß. Während er unseren Gruß mit leichtem Kopfneigen erwiderte, ließ ein Lächeln seinen Blick plötzlich hell aufleuchten.
    Er bat uns, Platz zu nehmen. Auf dem Tisch stand eine Kanne mit Tee. Der Pockennarbige füllte unsere Tassen. Der Arzt hatte ein Glas Wasser vor sich stehen. Draußen meckerte eine Ziege, aber im Raum herrschte völlige Stille, bis der abgemagerte alte Mann das Schweigen brach. Er sprach mit flatteriger Stimme das elegante, formelle Tibetisch der alten Generation.
    »Karma Dolkar war zehn Jahre lang meine Schülerin. Sie sind ihre Cousine. Das sehe ich.«
    Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich lächelte.
    »Ja.«
    »Sie sind auch Ärztin.«
    Und wiederum war es keine Frage.
    »Ich bin im Westen ausgebildet«, sagte sie. »Mein Spezialgebiet ist die Mikrochirurgie.«
    Er wollte mehr darüber wissen. Wie jeder Mensch, der sich auf seinen Beruf versteht, war er begierig, Neues zu erfahren. So erzählte ich. Er hörte äußerst konzentriert zu, wobei er die Stirn furchte und mir fast unverwandt ins Gesicht schaute. Seine Augen schimmerten wie Onyx. Schließlich nickte er und sagte, ja, ja, die tibetische Medizin ginge andere Wege. Aber chirurgische Techniken seien nützlich, wenn die Natur ihr Werk nicht selbst vollbringen könne, oder wenn jede Behandlung sich als machtlos erwiesen habe.
    Während er sprach, belebten sich seine Züge, die Stimme, seinem Willen gehorchend, klang fester. Die Sache hatte ihn gepackt.
    »Unsere Tradition sagt: Chirurgie ist nicht Medizin, sondern Verstümmelung. Sie sagt auch, der Kranke kommt von der Krankheit, die Person von ihren Organen, der Mensch vom Universum. Und ferner sagt sie, die Behandlung sollte dem Kranken, dem Ort, den Jahreszeiten angepaßt sein. Nun, das ist schon viel.
    Aber auch wir hatten Ärzte, die vor zweitausend Jahren im Herausschneiden von Tumoren, im Entfernen von Fremdkörpern und Nähen von Därmen geschickt waren. Der indische Chirurg Sushruta, ein Zeitgenosse Buddhas, operierte sogar den grauen Star. Die 93
    westliche Medizin steht uns näher, als wir glauben. Würden wir beide Richtungen ernsthaft studieren, könnte eine neue Medizin entstehen, die das Beste aus beiden Schulen in sich vereint.«
    »Dies zu lernen«, warf ich ein, »wäre mein Wunsch. Es gibt nichts, was ich lieber möchte als das. Deswegen bin ich gekommen«, setzte ich hinzu.
    Beunruhigt wartete ich, was er sagen würde. Ich hatte unbedacht gesprochen, nicht anders als ein Kind, das auf Geschenke aus ist. Er indessen betrachtete mich prüfend und sehr genau.
    »Ich bin zu alt und habe auch zu viel Zeit verloren. Aber Sie könnten es bei Karma lernen.«
    Ich erwiderte, daß ich sie vergeblich in Kathmandu gesucht hatte.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Sie ist nicht mehr da. Sie hat ihren Laden aufgegeben und lebt jetzt in Pokhara, im Tashi Packhiel Camp. Sie arbeitet dort in der Krankenstation.«
    Ich übersetzte für Roman. Er hatte die Karte Nepals gut im Kopf.
    »Pokhara? Das liegt doch beim Annapurna-Massiv? Zweihundert Kilometer westlich vom Kathmandu-Tal, soviel ich weiß?«
    »Ja, an der tibetischen Grenze.«
    Der Arzt, dessen Augen aufmerksam zwischen uns hin und her sprangen,

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