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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Europa gewesen, aber die Reisen Seiner Heiligkeit verfolge er mit größter Anteilnahme. Der Novize goß frischen Tee ein. Roman hielt sich kerzengerade und trank. Thapa schien in Reglosigkeit erstarrt. Der Abt lächelte jetzt nicht mehr, sondern sprach mit nachdenklichem Gesicht.
    »Daß unser Volk aus seiner schönen Heimat in alle Welt hinaus verstreut wurde, erscheint mir wie eine merkwürdige Tat des Schicksals. Was mich betrifft, ich stelle Fragen. Ohne Unterlaß Fragen zu stellen, das nennt man Leben. Doch ich weiß, daß ich die Arbeit vieler Leben brauche, um die Antworten zu finden.«
    Er blickte mich fest an. Ich erwiderte:
    »In Europa gibt es ein Sprichwort: Wenn es dem Bären zu wohl wird, fängt er an zu tanzen. Daneben besteht die Meinung, daß man nur durch Entbehrungen zur Einsicht kommt.«
    Er nickte vor sich hin.
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    »Ach? Tatsächlich kommt mir oft der Gedanke, daß die Prüfungen, die uns auferlegt wurden, uns in Wirklichkeit helfen. Der Schmerz stärkt den Glauben und festigt die Seele. Derzeit erdulden wir Qualen. Und es werden neue Nöte hinzukommen, die wir nicht kennen. Unsere Zukunft ist wie Wasser, das wir von so weit herholen, daß wir jeden Tropfen mit einer Träne bezahlen. Aber eines Tages werden wir wissen, wofür wir kämpfen. Nicht für eine bessere Welt, nein, sondern für einen besseren Menschen.«
    Nach einem Schweigen schüttelte er den Kopf, wie um einen Gedanken loszuwerden, und schenkte uns sein helles, aufgeräumtes Lächeln.
    »Genug! Ich bin ein Schwätzer. Ich weiß, daß Sie gekommen sind, um meinen Bruder zu treffen. Doch was führt Sie zu ihm?«
    »Ich bin Ärztin«, sagte ich.
    Er antwortete ernst.
    »Sie dienen den Menschen. Nicht alle haben dieses Glück.«
    Für gewöhnlich fiel es mir schwer, von mir zu erzählen. Roman konnte sich nicht einmischen; dadurch formten sich meine Gedanken leichter.
    »Ich idealisiere Tibet nicht, so wie manche es tun. Ich liebe meinen Beruf, könnte auch gut verdienen dabei. Aber ich bin an einem toten Punkt angelangt. Was mich belastet, ist das Bewußtsein, daß ich nicht mein Bestes gebe. Ich möchte in erster Linie mir selbst gegenüber aufrichtig sein. Der Ehrwürdige Menrampa unterrichtete meine Cousine Karma Dolkar. Ich habe mir sagen lassen, daß er ihre Fähigkeiten schätzte. Ich möchte ein paar Jahre bei ihr lernen. Es sei denn, sie findet mich unzureichend.«
    Unvermittelt lächelte er. Seine Zähne glitzerten unter dem Schnurrbart.
    »Es gibt ein Feuer, das von Geist zu Geist springt.«
    Ich verzog leicht das Gesicht.
    »Ich wünschte, es würde brennen.«
    Er blinzelte mit beiden Augen gleichzeitig.
    »Wenn es nur raucht, werden Sie es schnell erfahren.«
    Inzwischen war auch unser Begleiter wieder da. Der Abt forderte ihn mit einem Blick zum Sprechen auf. Der Mönch deutete eine Verbeugung an: der Ehrwürdige Menrampa sei bereit, uns zu empfangen.
    »Am besten, Sie gehen gleich zu ihm«, sagte Gyatso Tonpa. Ein Schimmer von Besorgnis glitt über sein Gesicht. »Sein altes Herz ist 91
    noch gut dabei. Aber er darf sich nicht anstrengen.«
    Wir erhoben uns; ich entschuldigte mich für die Störung, dankte dem Abt für seine Hilfe. Er lachte leise und belustigt.
    »Es war mir eine Freude. Lamas können nicht den ganzen Tag meditieren: ich existiere, und du existierst, und wir beide existieren nicht, und so weiter. Dazu brauchen sie einen klaren Kopf. Sie müssen essen und ein paar Stunden schlafen oder sich Geschichten anhören. Und bisweilen auch eine neue Geschichte erleben, eine, die gerade erst beginnt.«
    Er gab ein Zeichen. Der junge Mönch trat vor, reichte ihm drei Katas – Glückschärpen – mit denen die Tibeter ihre Gäste ehren.
    Gyatso Tonpa winkte uns zu sich, legte jedem von uns eine Kata um die Schultern. Er sah mir geradeaus ins Gesicht; ich empfand die tiefe Kraft seines Segens; es war, als berührten sich unsere Seelen.
    Dann gingen wir, und Roman streckte erlöst den steifgewordenen Rücken. Er ließ die Unterlippe hängen, woran ich merkte, daß er schmollte.
    »Ich hatte gehofft, hier etwas zu lernen.« Seine Stimme klang ungehalten. »Ich bin ohne Bezugspunkte und komme mir etwas dumm vor. Und der Abt hat bloß mit Firlefanz gespielt. Ich möchte ihn nicht als leichtfertig bezeichnen. Aber trotzdem… «
    »Lamas haben ihre eigene Logik. Die zu verstehen, erfordert Übung. Und sie denken, daß Emotionen wesentlich sind. Es tut mir leid, Roman.«
    Er seufzte gereizt, legte mir versöhnlich die

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