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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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bringt eine These vor, der Meister widerlegt sie.«
    »Ähnlich also wie in der Talmudschule?«
    »Ja. Buddhisten halten nicht viel von blindem Gehorsam. Wer religiöses Denken kritiklos akzeptiert, gilt als unreif.«
    Unser Begleiter blinzelte hinter den dicken Brillengläsern, als ob er die Worte verstanden hätte. Er schob den Vorhang ein wenig zur Seite, so daß wir einen Blick in das Zimmer werfen konnten. Der Raum war mit einer Holztäfelung versehen. Im Hintergrund erhob sich die typische Altarwand mit schön polierten Kultgegenständen aus Silber und Messing. Zwischen antiken Rollbildern, mit 88
    golddurchwirktem Brokat eingefaßt, hing ein großes, koloriertes Porträt des Dalai Lama. Der Abt saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem dunkelrot bezogenen Ruhebett. Vor ihm stand ein etwa sechzehnjähriger Novize, platzend vor Energie. Seine Stimme überschlug sich fast. Er sprang vor und zurück, stampfte mit den Füßen, schlug mit der Faust in die Handfläche, furchte grimmig die Stirn und rollte die Augen, als liege er mit unsichtbaren Dingen im Kampf. Roman sah eine Weile verblüfft zu. Dann fragte er:
    »Darf er so toben?«
    »Die Körpersprache wird im Chora im Debattierhof gelernt«, sagte ich leise.
    »Sehr eindrucksvoll. Und das vor einem Lehrer…«
    Dem Novizen fehlte es nicht an Überzeugung. Er brachte seine Meinung mit äußerster Vehemenz vor. Das Ganze war wie eine Mischung aus Tanz, Kampfsport und Deklamation, bis der Lehrer mit einem kurzen Befehl dem Disput ein Ende setzte. Sofort warf sich der Junge zu Boden, verneigte sich, kam wieder auf die Beine, verneigte sich ein zweites, dann ein drittes Mal, wobei er stets einen Schritt zurückging, bis er die Tür erreichte und atemlos aus dem Raum stürzte. Sein erhitzter Atem streifte uns, der Schweiß rann ihm die Schläfen herab. Blindlings schlüpfte er in seine Sandalen, stolperte davon wie ein aufgescheuchter Vogel. Das Echo seiner hastigen Schritte verhallte in den Gängen. Inzwischen betrat unser Begleiter den Raum. Ein leiser Wortwechsel folgte. Die Türhüter standen da, die muskulösen Arme verschränkt, und warfen uns Seitenblicke zu. Nach kurzer Zeit rief der Mönch drinnen ein paar Worte. Die Türhüter verneigten sich, hielten den Vorhang auf. Wir traten ein. Der Abt begrüßte uns zwanglos, wobei er die Falten seines Gewandes ordnete und eine bequemere Stellung suchte. Ein knapp vierzigjähriger Mann, drahtig und geschmeidig, mit ebenmäßigen Zügen und kurz gestutztem Bart. Er hatte pechschwarze Augen unter dichten Brauen, deren äußere Enden nach oben verliefen. Lächelnd empfing er unsere Verbeugung; seine Zähne waren weiß und ebenmäßig wie zwei Perlenschnüre. Der Mönch mit der Brille brachte drei Kissen; wir setzten uns, wobei sich Thapa ehrfürchtig im Hintergrund hielt. Dann verbeugte sich unser Begleiter, verließ den Raum. Ein Novize, das Gesicht respektvoll zur Seite gedreht, brachte Buttertee. Gyatso Tonpa sprach nur tibetisch.
    Aber wie jeder hohe Lama hatte er routinierte Umgangsformen und verstand es sehr wohl, seinen Gästen die Befangenheit zu nehmen.
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    Darüber hinaus merkte ich, daß ihn unser Besuch freute. Er machte gewandt Konversation, interessierte sich für unsere Antworten und zeigte seine prachtvollen Zähne. Ich sagte, daß Roman ein Buch über Exiltibeter schreiben wollte.
    Gyatso Tonpa nickte ihm freundlich zu.
    »Wir sind dankbar für jede Unterstützung.«
    Ich übersetzte. Roman machte ein erfreutes Gesicht und sagte, es sollte ein gutes Buch werden. Ein Buch aus der Sicht der Opfer, eine Anregung zum Engagement. Er sei hier, um Informationen zu sammeln und Probleme zu klären.
    »Informationen können täuschen, Probleme ablenken«, erwiderte Gyatso Tonpa. »Aber wenn Sie schreiben, was Sie fühlen, dann ist es schon richtig.«
    Roman runzelte leicht die Stirn.
    »Oh, das ist aber nicht so einfach!«
    Gyatso Tonpas Augen blitzten wie Gemmen.
    »Auf der Ebene der Sprache gibt es viele Schichten. Die gesamte Welt, jedes Erlebnis hängt mit unseren Gefühlen zusammen. Sie wirken nicht nur auf alle Lebewesen, sondern in alle Sphären ein.
    Aber das muß man persönlich erfahren.«
    Ich übersetzte auch das. Roman sah ihn aus übergroßen, verblüfften Augen an. Gyatso Tonpa lächelte, und die Spitzen seiner Brauen hoben sich höher. Roman war aus dem Konzept gebracht und sichtlich in Verlegenheit. Den Abt interessierte es, daß wir aus der Schweiz kamen. Er selbst, betonte er, sei nie in

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