Die Tibeterin
nickte. In Pokhara befanden sich mehrere Auffanglager.
Viele Tibeter sahen für sich keine Zukunft im chinesisch besetzten Gebiet und flohen über den Himalaya. Die Strapazen waren furchtbar. Erwachsene und Kinder kamen meistens krank über die Grenze: Lungenentzündungen, Typhus, Durchfall, Erfrierungen. Im allgemeinen waren die Krankenstationen gut ausgerüstet, sagte Jonten Kalon. Das nötige Geld komme von der tibetischen Exilregierung oder von Privatspenden. Aber es herrsche ein Mangel an Ärzten und geschultem Pflegepersonal. Ich sagte:
»Ich muß mich nach den Flügen erkundigen.«
Er sah mir in die Augen.
»Sie werden schlecht verdienen und sich eingesperrt fühlen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das macht das Leben einfacher für mich. Es geht mir nicht um Geld. Ihr Wissen zu lernen, ist mir wichtiger.«
Er hob die Brauen, als hätte ihn die kleine Schmeichelei gefreut und erwiderte, versonnen lächelnd:
»Wenn ein Mensch merkt, daß sein Atem dem Ende zugeht, möchte er denen, die nach ihm kommen, den Rhythmus des eigenen 94
Atems übermitteln. Und der Atem des Arztes ist seine Erfahrung. Er möchte sein Wissen weitergeben. Nicht etwa, weil es seiner Endbestimmung entspricht – denn diese zieht sich durch mehrere Leben-, sondern weil es seine Pflicht ist.«
Ein heiserer Husten schnitt ihm das Wort ab. Der Pockennarbige machte ein besorgtes Gesicht und reichte ihm das Glas. Jonten Kalons linke Hand tastete ungeschickt aus seinem Gewand hervor.
Seine zarten Finger schlossen sich um das Glas, führten es an die Lippen. Ich versuchte herauszufinden, was mir an seiner Bewegung seltsam vorkam, als Roman sich plötzlich vorlehnte.
»Mich würde interessieren, ob die Chinesen ihm erlaubt haben, in Tibet seinen Beruf auszuüben.«
Ich dolmetschte. Jonten Kalon stellte behutsam das Glas auf den Tisch. Seine klaren Augen wandten sich Roman zu. »Die chinesischen Ärzte«, sagte er, »kümmern sich wenig um die Einheimischen. Sie sind für die Chinesen da. Tibeter werden zumeist von Medizinstudenten behandelt. Tibet ist für sie ein ausgezeichnetes Experimentierfeld. Manchmal – es steht außer Zweifel – erzielen sie Erfolge und werden gute Ärzte.«
Sein ironischer Tonfall ließ in mir ein Unbehagen zurück, einen fast körperlichen Eindruck von Schrecken. Doch Roman sprach weiter.
»Wir hörten, daß Sie verhaftet wurden, weil Sie verletzte Demonstranten gepflegt haben. Stimmt das?«
Seine Worte hörten sich brutal an. Ich schämte mich für ihn. Doch Roman blieb stur. Es war nicht seine Art, auf Umwegen zum Kern der Sache zu kommen. Und bisher hatte er reichlich Geduld gezeigt.
»Frag ihn, ob das stimmt, Tara!«
Ich tastete mich vor, als ginge ich auf rohen Eiern. Ich hatte Angst, an diese Dinge zu rühren. Doch Jonten Kalon, der Roman nicht aus den Augen ließ, nickte gleichmütig.
»Der Leidensfähigkeit der Menschen ist eine Grenze gesetzt. Die Chinesen versuchen, die Grenzen immer weiter zu verschieben. Das kommt ihrem Forschungsdrang zugute. Sie denken praktisch, wollen sich aber nicht blamieren. Die Menschenrechte, nicht wahr?«
Ich atmete etwas auf und dolmetschte. Roman starrte ihn an. Der alte Mann sprach weiter, mit unentwegt ruhiger Stimme.
»Offiziell gibt es keine Folter und keine politischen Gefangenen.
Man geht sehr vorsichtig vor. Aber auch sehr radikal.«
Gelassen schob er sein Gewand zurecht. Ich starrte auf den 95
Armstumpf, der aus seiner nackten Schulter ragte; die Narbe war dunkelrot, die Knochen waren unter der eingeschrumpften Haut sichtbar. Ich bemerkte aus den Augenwinkeln, daß Roman eine Art Schluckauf bekam. Er preßte die Hand vor den Mund, stieß seinen Stuhl zurück und verließ taumelnd den Raum. Ich gab Thapa ein Zeichen; er sprang auf und lief mit verstörtem Gesicht hinterher. Als beide draußen waren, holte ich tief Luft.
»Die Wunde ist gut vernarbt.«
Der alte Mann antwortete ebenso sachlich:
»Wie Sie sehen, nahmen sie dazu eine Säge. Sie taten das nötige, damit ich nicht verblutete. Sie wollten Informationen. Sie würden sie schon bekommen, sagten sie. Ich hätte ja noch den linken Arm.
Wenn jemand sterben will, dann ist es nicht schwer, den Weg zu finden. Doch es sollte nicht sein. Ich hatte Freunde. Nicht alle Chinesen sahen sich als Werkzeuge für eine Veränderung der Welt an. Ich kam frei, doch für wie lange? Sie hatten mich in der Hand.
Ich war jeden Tag darauf gefaßt, wieder verhaftet zu werden. Nicht, daß ich meinem Leben
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