Die Tibeterin
Bäume gegen die Widrigkeiten der Realität geschützt. Ein Floß fuhr hin und her, beladen mit seiner kostbaren Touristenfracht. Rund um den See drängten sich Garküchen und Restaurants. Es roch nach Fäulnis und gebratenem Öl. Händler verkauften Souvenirs, billigen Schmuck, ausgediente Trekkingausrüstungen und Bergschuhe. Trekker, erschöpft von ihren Kämpfen gegen Blutegel und Flöhe, schleppten sich in Gruppen dahin, von zerlumpten Kindern umringt und begafft.
Zwischen Ziegen, Schafen und dösenden Hunden stapften tibetische Mönchsschüler durch den Schlamm, uralte Frauen drehten Gebetsmühlen, heilige Kühe suchten ihre Nahrung im Abfall. Bald ließen wir den Stadtkern hinter uns, fuhren auf einer Straße, die hügelauf und hügelab in Richtung des Vorgebirges führte. Die Straße bestand teilweise aus Schlamm, teilweise war sie mit Steinen frisch aufgeschüttet. Das Taxi hopste, ratterte und kuvte. Zehn Minuten, nachdem wir Pokhara verlassen hatten, hörte die Steigung auf; wir fuhren hinunter in ein Tal. Ich erblickte eine Ansammlung von Baracken und kleinen Steingebäuden, dahinter eine Wiese mit zwei Fußballtoren.
»Hier tibetisches Camp Tashi Packhiel«, verkündete der Fahrer.
Der Wagen rollte durch ein Tor und hielt auf einem Platz, einer sandigen, viereckigen Fläche. Die Siedlung machte einen überraschend gepflegten Eindruck. Aus einem Gebäude drangen die Stimmen der Schulkinder, die nach tibetischer Art die Buchstaben sangen. Daneben befand sich der Klosterbau, gelbgetüncht wie ein massiver Lehmblock; Stoffbahnen flatterten vor dem Eingangsportal.
Auf dem Dach funkelte ein Tschörten – ein Reliquienschrein – aus vergoldetem Kupferblech.
Während ich den Fahrer bezahlte, kam ein junger Mann über den Platz. Er hatte ein dunkles Gesicht und freundliche Augen. Ich stellte mich vor, und er schüttele mir kräftig die Hand.
»Schön, daß Sie da sind. Mein Name ist Tsering Dadul. Ich arbeite hier in der Verwaltung.«
Er war es, der Karma von meinem Kommen unterrichtet hatte; das Faxgerät stand bei ihm im Büro. Tsering Dadul nahm mir beide Taschen ab und führte mich zur Krankenstation. Die singenden Stimmen der Schulkinder wehten über den Platz; einige 101
Halbwüchsige spielten Fußball. Tsering Dadul ging voraus, munter plaudernd, hob ein zerknülltes Papier auf, warf es in einen Abfallkorb. Die Krankenstation, ein einstöckiges Backsteingebäude, lag hinter dem Kloster. Wir betraten ein kühles, sauberes Vorzimmer. Ein Medikamentenschrank nahm fast eine ganze Wand ein. Pillen und Kräuter verschiedener Art waren sorgfältig in Glasbehälter gefüllt. Eine hohlwangige Tibeterin, die stark hustete, hielt ein Kind auf dem Schoß, das ein Stück Fladenbrot zerkrümelte.
Eine Krankenschwester saß an einem Schreibtisch vor einem Computer. Sie drehte ihren Stuhl herum, warf ihren langen Zopf zurück und begrüßte mich lebhaft. Ich erfuhr, daß Karma gerade bei einer Untersuchung war. Es würde nicht lange dauern, sagte die Krankenschwester. Tsering Dadul verabschiedete sich mit der Bemerkung, daß wir einander noch sehen würden. Ich setzte mich neben die Tibeterin. Sie trug eine verblichene Tschuba und die Pangden, die gestreifte Schürze der verheirateten Frauen. Ob sie schon lange im Camp lebte, fragte ich. Sie verneinte; erst seit ein paar Wochen. Sie erzählte, daß sie aus der Grenzstadt Lho stammte.
Ihr Mann war an Asthma gestorben. Sie hatte den Kleinen auf den Rücken gebunden und den Himalaya in zwanzig Tagen überquert. In Nepal machte sie Zwischenstation; sie wollte zu ihrem Bruder nach Indien. Der kleine Junge betrachtete mich neugierig und zutraulich.
Ich fragte die Frau, wie er die Reise überstanden hätte.
»Dawa ist kräftig« erwiderte sie stolz. »Ich bin krank geworden, er nicht. Jetzt bin ich froh. Er soll leben, wie er will, und eine gute Schule besuchen. Das ist in Tibet nicht möglich. Zu viele Chinesen wohnen jetzt in unserem Land.«
Da ging eine Tür auf; ein alter Mann mit einem Fuß im Gips humpelte hinaus. Hinter ihm betrat eine Tibeterin im weißen Ärztekittel den Raum. Sie hielt eine Krankenkarte in der Hand.
Unsere Augen trafen sich. Ich stand auf und lächelte.
»Tara«, sagte sie, »wie geht es dir?«
»Wie kommt es, daß du mich gleich erkannt hast?« fragte ich.
»Wie sollte ich nicht?« erwiderte sie verschmitzt. »Du gleichst deiner Mutter.«
Ich versuchte die Person, die nun vor mir stand, mit dem Bild in meiner Erinnerung zu
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