Die Tibeterin
übermäßige Bedeutung beigemessen hätte, aber ich konnte meinem Volk noch nützlich sein. Sobald ich bei Kräften war, wagte ich die Flucht. Ein Lastwagen brachte mich über die Grenze.«
Ich schwieg. Die beiden Mönchen starrten vor sich hin. Die Hand des Arztes tastete nach dem Wasserglas. Ein paar Tropfen rannen über sein Kinn. Ich hörte an seiner Stimme, wie müde er war.
»Mir blieb nur noch eine Hand, die linke. In den folgenden Jahren wurde ich mein eigener Lehrer. Demütig schulte ich diese Hand, erzog sie für ihre zweifache Aufgabe. Die Jahreszeiten vergingen.
Ich merkte, wie die Gesten, die sich in meinem Körper im Laufe der Jahre angesammelt hatten, durch meinen linken Arm in die Hand strömten. Ich konnte meine Tätigkeit wieder aufnehmen, neue Schüler ausbilden. Die Chinesen hatten mir den Arm genommen, mir dafür ein vertieftes Empfinden, ein umfassenderes Denken geschenkt. Sie wollten mir schaden, sie haben mich bereichert. Die Götter ließen mich alt genug werden, um es fühlen zu können.«
Seine Stimme brach. Husten schüttelte seine magere Brust. Der Pockennarbige hielt ihm sein Glas hin. Jonten Kalon trank; das Wasser beruhigte den Hustenreiz. Er straffte sich, zog sein Gewand über den Armstumpf und ordnete die Falten. Seine Gesten waren sehr langsam, aber leicht und geschickt. Dann wandte er sich mir zu und lächelte ein wenig.
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»Ihr Begleiter ist kein Arzt, nicht wahr?«
»Nein, er ist Journalist.«
»Er hat keine starken Nerven.« Jonten Kalon zeigte eine Spur der Herablassung, die das Alter für die Jugend manchmal aufbringt.
»Wird er mit Ihnen nach Pokhara gehen?«
»Nein«, erwiderte ich, »das glaube ich kaum.«
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11. Kapitel
T äglich – außer am Samstag – ging von Kathmandu aus ein Flugzeug der Air Everest nach Pokhara. Die Maschinen verfügten über keinen Radar, und die Piloten flogen auf Sicht. Pokhara lag zweihundert Kilometer westlich von Kathmandu. Die Flugzeuge waren stets ausgebucht, und ich hatte tagelang warten müssen, bis ich ein Ticket ergatterte. Bei schlechtem Wetter wurden die Flüge oft in letzter Minute abgesagt. Auch in dieser Nacht hatte es geregnet, rings um den Horizont schwammen weiße Wolken, die der Wind gegen die Berge preßte. Die kleine Maschine war gerammelt voll: eine Delegation von Beamten, alle in dunklen Anzügen, deutsche Rucksacktouristen, blond und braungebrannt. Eine Gruppe von Japanern wollte auf den Annapurna. Männer und Frauen waren mit farbenfrohen Daunenjacken, Pullovern, Wollmützen, Handschuhen und Schals ausstaffiert, die reinste Bergsteigermodenschau. Wir saßen vierzig Minuten lang angeschnallt, bis die Maschine, von Windböen geschüttelt, endlich startete. Das Flugzeug hüpfte und taumelte in den Luftlöchern. Eine Stewardess, schweißgebadet vor Übelkeit, verteilte süßsaure Bonbons, rosa wie ihr Sari. Der Zwischengang war so schmal, daß sie sich nur seitwärts voranschieben konnte. Die Sitze waren voller Flecken und eingebrannter Zigarettenlöcher. Endlich flog die Maschine ruhiger.
Die Beamten lasen die Kathmandu-Times, die Japaner
photographierten durch die trüben Fenster. Unter uns dehnte sich das Vorgebirge aus, braungefleckt wie ein Leopardenfell. Schatten erfüllten die Schluchten; Felder, in Staffeln angelegt, leuchteten grün und gelb, und Wege ringelten sich schlangengleich über Hügel und Täler. Kleine, hellrote Dörfer klebten an den Hängen wie Vogelnester. Und hoch über den goldbraunen Kämmen schwebten, glasig schimmernd wie Eiswellen, die höchsten Gipfel dieser Erde.
Kein Auge, kein Gedanke, schien stark genug, ihr Geheimnis zu durchdringen. Der Schatten des Flugzeuges lief neben uns her, sprang vor und zurück über dunkelweiße Wolkenballen. Ich bin da, dachte ich, in diesem fliegenden Schatten. Mir war, als ob sich sämtliche Fäden, die mich mit dem verbanden, was einmal gewesen war, plötzlich gelöst hätten.
»Es tut mir leid«, hatte Roman damals gesagt, als wir das Tritan Norbutse Kloster verließen. »Ich fürchte, ich habe mich daneben 98
benommen.«
»Du hast nicht allzuviel Selbstbeherrschung gezeigt.«
»Ich war einfach nicht darauf vorbereitet…«
»Er hat es dir nicht übel genommen.«
»Herrgott! Man kann es sich nicht vorstellen.«
»Manchmal sägen sie den Gefangenen beide Arme ab. Und die Beine auch. Und lassen sie verbluten. Tashi Kalon hat Glück gehabt.«
Am Morgen hatte er mich zum Flughafen gebrach, zwei gute Stunden mit mir gewartet. Die
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