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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Kiefernnadeln, Akazie, wilder Thymian, Terpentine: Jede Pflanze hatte ihre besondere Eigenschaft. Insgesamt wachsen in Nepal über sechshundert therapeutische Pflanzensorten, die Hälfte davon in der subtropischen Zone. Manche wirken nur in Verbindung mit Metallen. Gold, Silber, Zink, Kupfer und Eisen werden ebenso verwendet wie Metalloide – Arsen und Antimon –
    und pulverisierte Smaragde, Saphire und Rubine. Tatsächlich vermögen diese Arzneien synthetische Pharmaka zu ersetzen. Alles kommt auf die Dosierung an. Karma wurde nicht müde, mich zu warnen: Falsch angewendet, konnten diese Präparate Gift für den Menschen sein. Auch die natürlichen Heilkräfte der Erde wurden genutzt. Besonders wichtig war der Lehm, der sich in der Monsunzeit voll Wasser saugt, aber gleichzeitig auch die Fähigkeit hat, das Sonnenlicht einzufangen.
    »Der Lehm ist dein guter Freund, Tara. Verbinde seine Kraft mit 128
    der Kraft deiner Hände, und er zieht den Schmerz aus dem Menschen heraus.«
    Lehm wirkt wie Penicillin. Aber Penicillin muß erst hergestellt werden. Der Lehm ist Teil der Erde.
    »Wir sind aus dem gleichen Material gemacht«, sagte Karma. »Die Erde ist unsere Mutter. Wir müssen große Sorge für sie tragen. Wenn sie krank ist, sind wir auch krank.«
    Ich nahm diese Lehren an, so wenig ich auch über ihre Gesamtheit wußte. Sie zogen mich in ein ganzes Netz von Verwandlungen und Geheimnissen. Gleichwohl empfand ich niemals das Gefühl einer Fremdartigkeit. Es war mir, als führte mich Karmas Wissen Dingen entgegen, die schon in mir waren, vielleicht seit Jahrhunderten.
    Dabei empfand ich eine tiefe Freude, eine nahezu euphorische Leichtigkeit der Sinne. Diese Gefühle gaben der Landschaft ringsum ein noch magischeres Licht. Nie hatte ich eine ähnliche Verzauberung empfunden wie jene, von der ich mich mitten in dieser Bergwelt umstrickt fühlte. Mir war, als verschärfte sich mein Geist, als dehne er sich in alle Richtungen aus. Und Karma, die mich in diese Wunderwelt einführte, vergaß niemals, wem sie ihre Weisheit verdankte. Einmal, als wir auf einem Baumstamm saßen und Stengel sortierten, sagte sie zu mir:
    »Glaube nicht, daß ich viel weiß. Unsere Erfahrung steht im Verhältnis zu der durchlebten Zeit. Gemessen an Jonten Kalon bin ich ein Kind. Ich denke täglich an ihn und danke ihm, daß er sein Wissen mit mir teilte. Und jetzt bist du hier, damit ich dir auf den Weg helfen kann.«
    »Du bist eine gute Lehrerin.«
    »Warte nur, deine Zeit wird kommen. Du lernst schnell von mir.
    Jonten Kalon wollte nie, daß ich ihm den Unterricht zahle. >Ich gebe Erfahrung<, sagte er, >ich verkaufe sie nicht.<«
    »Du hast auch kein Geld von mir genommen.«
    Sie blinzelte vergnügt.
    »Wenn das Lernen so sinnlos viel Geld kostet, macht es doch keinen Spaß mehr, oder?«
    Im September war der Himmel blau wie Türkis, wunderbar durchsichtig. Die Berge zeigten sich in ferner, klarer Pracht. Die schöne Jahreszeit begann, aber im Camp herrschte Bestürzung. Aus Tibet sickerten schlechte Nachrichten durch. Offenbar war es in der Klosterstadt Drepung, ein paar Kilometer westlich von Lhasa, zu schweren Krawallen gekommen. Ein Abtransport wertvoller 129
    Rollbilder aus dem Haupttempel war der Auslöser gewesen. Die Thankas sollten in Beijin ausgestellt werden, aber die Mönche argwöhnten – nicht zu Unrecht –, daß sie die Rollbilder nie wiedersehen würden. Und diese Mönche hatten einen besondere Ruf.
    »Die Chinesen sagen, in Drepung sitzt eine Eule unter hundert Geiern«, erklärte Pema Thetong mit grimmigem Spott. »Ich würde sagen, nicht genug, um etwas zu bewirken, aber viel zu viel, als daß sie keine Unruhe stiften könnten.«
    Wie ein Lauffeuer hatten die Proteste auf die Hauptstadt übergegriffen. Das Militär hatte geschossen. Die Zahl der Toten und Verletzten war nicht bekannt.
    »Wie üblich kam es zu Verhaftungen. Die Leute wurden zusammengeschlagen und ins Gurtsa-Haftzentrum gebracht. Schon mal davon gehört?« fragte mich Pema etwas überheblich.
    Ich schüttelte den Kopf. Dorje Sandup, dem das Lachen gründlich vergangen war, reichte mir einen Becher Tee. »Das Gurtsa-Gefängnis ist ein Folterzentrum. Das schlimmste, wie man so hört.«
    Dorje Sandup kannte sich in Folterzentren aus; in einem hatte man ihm die Zähne ausgeschlagen, im nächsten beide Beine gebrochen.
    Was die Menschenrechte betraf, zeigte sich China äußerst ungefällig. Menschenrechte waren Nebensache und dem steigenden

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