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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die Reise gebraucht?«
    »Über einen Monat. Sonam litt an ihrer Wunde, und allzu lange 144
    Etappen konnte ich ihr nicht zumuten. In einem Dorf kaufte ich für sie ein robustes, aber sanftes Reittier. Wir verbrachten die Nächte unter freiem Himmel oder fanden in Hirtenzelten Obdach. Als die Wehen einsetzten, waren wir hoch oben im Gebirge und weit entfernt von jedem Dorf. Ich suchte im Wald eine geschützte Stelle, schürte das Feuer und schmolz Schnee in einem Topf. Sonam lag ruhig in ihrem Schmerz, blaß, Schweiß auf der Stirn. Da sie jung war und nie unter Krankheiten gelitten hatte, meinte ich, es werde rasch vorüber sein. Doch sie plagte sich die ganze Nacht, und die Stimme des Kindes ertönte erst in den kalten, frühen Morgenstunden. Ich hob es auf; es schien mir klein und schwach. Ich tat das Nötige und legte es zu Sonam unter die Decke. Sie hatte nicht viel Milch. Ich schwang mich auf mein Pferd, erreichte nach ein paar Stunden ein Dorf und kaufte eine Ziege, damit wir Milch für das Kind hatten. Nach einigen Tagen hatte sich Sonam so weit erholt, daß wir weiterreiten konnten.
    Bald sahen wir vor uns die Gipfel der Everest-Gruppe, schneebedeckte Eisriesen über grünen und blauen Hügelketten. Wir nutzten die warmen Stunden im Sonnenschein, um so schnell wie möglich zu reiten. Doch wir hatten Zeit verloren, und die Pässe waren bereits verschneit. Der Wind schnitt uns wie ein Messer in die Haut. Sonam erkältete sich und hustete. Das alles war zu viel für sie gewesen. Doch es half alles nichts, wir mußten weiter. Unser Ziel war der Nagpa La, der Grenzpaß zwischen Indien und Nepal. Der Gipfelhang war steil, Wind wehte Schnee auf, wir ritten bis zur Erschöpfung über Eisflächen, über Schutt und lockeres Geröll.
    Endlich erreichten wir die Paßhöhe, aber der Abstieg ins Tal begann unter schlechten Voraussetzungen: Die Ziege brach sich das Bein, und ich mußte sie töten. Ich befürchtete, daß das Baby nicht überleben würde. Auch Sonam ging es nicht gut, und das Reiten wurde beschwerlich. Unsere Tiere begannen zu gleiten und zu stolpern. Dazu kam, daß zu beiden Seiten der Grenze Patrouillen lagerten; wir mußten beträchtliche Umwege einplanen. In Namche –
    der ersten nepalischen Ortschaft - bin ich mit einem Gutsverwalter befreundet. Hier konnten wir uns ausruhen und bekamen Milch für die Kleine. Gegen angemessene Bezahlung überließ mir Birman seinen Jeep, und den letzen Teil der Strecke konnten wir mit dem Fahrzeug zurücklegen.«
    Atan wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und schloß seinen Bericht mit den Worten:
    »Man muß etwas wagen, wenn man es weiter bringen will. Und wo 145
    der eine versagt, kann der andere taugen.«
    Ich starrte ihn wortlos an. Mein Herz hämmerte seltsam erregt. Ich war unfähig zu begreifen, was in mir ausgelöst worden war. Es hing mit der Erinnerung zusammen, die irgendwo in meinem Kopf erwacht war und mich in meiner Konzentration störte.
    »Und jetzt?« brach ich das Schweigen. »Was werden Sie tun?«
    »Ich gehe wieder zurück.«
    »Wohin? Nach Tibet?«
    »Tibet ist nicht mehr Tibet. Tibet ist jetzt China. Ja, ich gehe dorthin zurück.«
    »Kann das nicht gefährlich für Sie werden?«
    Er bewegte den Kopf hin und her.
    »Es ist eine komische Sache mit der Gefahr. Man kann sich gut an sie gewöhnen.«
    Was für einen Mann habe ich da vor mir? fragte ich mich.
    Ich konnte mir immer noch keine Vorstellung davon machen, wie sein bisheriges Leben ausgesehen haben mochte. Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie sind ein seltsamer Mensch, Atan.«
    »So?« Er hob die Brauen und sah mich an. Die Brauen waren dicht und schwarz, die eine lag etwas höher als die andere, was seinem Gesicht ein asymmetrisches Aussehen verlieh – einen Ausdruck von Hochmut und zugleich Verträumtheit.
    »Warum meinen Sie das?«
    »Mir scheint, Sie sind viel herumgekommen.«
    Er nickte, die geschlossenen Lippen zu einem Lächeln verzogen.
    »Eine Zeitlang habe ich in Burma gelebt. Zwei Jahre in Taiwan und zwei weitere in den Vereinigten Staaten.«
    »Und ursprünglich?«
    »Ursprünglich bin ich aus Kham.«
    »Ich habe es mir gedacht. Sie tragen einen Ohrring.«
    »Sie können mich jetzt zum Teufel jagen«, sagte er. »Das Essen war fabelhaft.«
    Er hatte die merkwürdigsten Augen, die ich je gesehen hatte: rätselhaft, von fast violettem Schwarz. Ich konnte darin nichts erkennen, außer vielleicht einen winzigen Funken Schalk. Aber ich war da nicht ganz sicher. Dieser Mann war

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