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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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dachte darüber nach, während ich Atans rätselhaft bitteres Gesicht betrachtete.
    Niemand erkennt die Bedeutung einer ganzen Sache auf einmal. Das Verständnis kommt schrittweise und manchmal unerwartet. Meine Gedanken kreisten wie ein Rad, bis aus diesen Überlegungen eine Frage entstand.
    »Die Frau, von der du gesprochen hast, schminkte sie ihr Muttermal?«
    Er zögerte, bevor er langsam nickte. Die Antwort kam 162
    eigentümlich melancholisch über seine Lippen.
    »Ja. Sie macht einen dunkelblauen Tupfen daraus. Es steht ihr gut.
    Sie hat einen schönen Mund.«
    »Wie sieht sie aus?«
    Er betrachtete mich. Sein Ausdruck war steinern geworden. Dann hob ein Atemzug seine nackten Schultern.
    »Sie könnte deine Schwester sein.«
    Mein Rückgrat prickelte; ich spürte, wie mein Haar sich im Nacken sträubte. Ich vermochte weder zu denken noch zu sprechen. Endlich bewegten sich meine Lippen. Ich hörte meine Stimme, sie klang wie die einer fremden Person, so voller Staunen und rauh und fern.
    »Sie ist meine Schwester.«
    »Chodonla?«
    Er hatte den Namen genannt, den Namen, der tief in meinem Herzen wohnte. Er traf mich von fern, wie der Klang einer Glocke.
    Vernunft und Menschenverstand sagten mir, daß dies nicht sein konnte. Daß es unmöglich, undenkbar war.
    Doch das Rad in meinem Kopf kreiste schneller, erzeugte ein Licht, das kreidig hell und schmerzhaft mein Hirn erleuchtete.
    »Chodonla…« flüsterte ich. »Ja, so heißt sie…«
    Eine lange, erregende Stille folgte. Wir starrten uns an: ein zweifacher Schock. Der Wille meines Vaters hatte die Vision verwirklicht. Alles, was jetzt geschehen würde, geschah durch ihn.
    Seit jener verhängnisvollen Nacht, da er seine kleine Tochter dem Schicksal ausgeliefert und es zugelassen hatte, daß ein anderer für ihn in den Tod ging, hatte Tashi weder Ruhe noch Trost gekannt.
    Depressionen sind klar zu definieren und heilbar. Tashi aber hatte die Überzeugung, daß es nichts in der Welt gibt, das nicht durch etwas anderes aufgewogen wird. Er hatte diesen Gedanken stur und bis zur letzten Konsequenz gesponnen. Er hatte Vergangenheit und Gegenwart gemischt, Raum und Zeit als Dinge angesehen, die ihm im Weg standen, und sie einfach fortgeschafft. So dachte ich, im Banne einer großen Verwirrung.
    Atan brach als erster das Schweigen.
    »Als ich dich zum ersten Mal sah, in der Krankenstation, da fiel es mir schon auf. Die Ähnlichkeit, meine ich. Ich habe mich an deine Stelle versetzt. Eine Unverfrorenheit, wenn ich dich gefragt hätte…
    «
    Sein Gesicht trug eine merkwürdige Mischung aus Spott, Widerstreben und Verlegenheit, als ob er etwas sehr Intimes 163
    preisgab. Ich dachte plötzlich, dieser Mann liebt sie. Ich wußte nicht, weshalb, aber diese Vorstellung erregte mich mehr als alles andere.
    »Gestern abend«, fuhr er fort, »war ich nahe dabei, es dir zu sagen.
    Aber dann kam die Pflegerin und holte dich.«
    Ich holte tief Luft. Die Wendung, die unser Gespräch genommen hatte, war einigermaßen verblüffend.
    »Kennst du Chodonla schon lange?«
    Er erwiderte ruhig meinem Blick.
    »Schon lange, ja.«
    Ich hatte einen trockenen Geschmack im Mund.
    »Willst du Kaffee?«
    Er nickte bejahend. Ich war einen Morgenmantel über, steckte die Gasflamme an und setzte Wasser auf. Dann drehte ich mich um und schaute ihn an.
    »Wir sind Zwillinge.«
    Er saß mit untergeschlagenen Beinen, entwirrte seine Locken mit beiden Händen. In der unbefangenen Art, wie er sich unbekleidet bewegte, lag nichts Herausforderndes, sondern sie gab einer vollkommenen Natürlichkeit Ausdruck, die mir meine Kindheit in Erinnerung rief. Jetzt warf er die Locken aus dem Gesicht, um mich anzusehen.
    »Sie sagte mir, daß sie eine gleichaltrige Schwester hat.«
    Ich holte zwei Tassen aus dem Schrank.
    »Was hat sie dir sonst noch erzählt?«
    »Nicht viel, außer, daß sie von ihrer Familie getrennt wurde. Sie sprach ungern von ihrer Kindheit.«
    Ich merkte jetzt, daß ich kaum geschlafen hatte. Mein Kopf begann zu schmerzen, und meine Schultern taten mir weh.
    »Sie hat vielleicht nie richtig verstanden, warum… warum alles so kommen mußte.«
    »Was ist geschehen?« fragte er sachlich.
    Ich wandte ihm das Gesicht zu.
    »Weißt du es denn nicht?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Darüber wollte sie nie sprechen.«
    Ich starrte ihn fasziniert an. Er flocht nicht sein Haar, wie eine Frau es tun würde. Seine gelenkigen Finger drehten es zu einer Art Seil, das er mehrmals eng um den Kopf wickelte

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