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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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und mit dem roten Garn befestigte, an dem verblichene Quasten baumelten. Dabei hielt er das eine Ende des Garns mit den Zähnen fest, während er das andere 164
    verknotete. Ein letzter Griff, dann ließ er die Arme fallen. Das schimmernde Haar wirkte jetzt wie eine gerollte Krone, die bis zu den finsteren Augenbrauen herabreichte. Ich wandte mich verstört wieder ab. Das Wasser kochte. Ich gab zwei Löffel Pulverkaffee in die Tassen, schüttete Wasser auf das Pulver. Ich fügte Zucker hinzu und brachte Atan den Kaffee. Er nahm die Tasse. Seine Arme waren sehr schön, sehr männlich. Doch im Sonnenlicht sah ich die Narben, die ich in der Nacht berührt hatte. Die Haut war stellenweise verfärbt, zeigte helle Flecken und verhärtete Wucherungen.
    »Verbrennungen«, murmelte ich. Es war eine Feststellung, keine Frage. Er nickte gleichmütig. Die Narben, mit der geschmeidigen festen Haut und den langen Muskeln verwachsen, hatten sich im Lauf der Zeit zurückgebildet. Und ohne biosynthetische Brandwundendeckung, dachte ich. Eine Infektion war offenbar nicht eingetreten. Das Leben in den Hochsteppen ist hart. Eine unbarmherzige Auslese beseitigt Schwache oder schwächlich Veranlagte schon im Säuglingsalter. Und bei den Nomaden galten Wundmale als Siegeszeichen. Ich stellte keine weiteren Fragen. Statt dessen erzählte ich, was sich auf der Flucht zugetragen hatte. Ich schloß sorgfältig jede Einzelheit ein. Gedanken und Erinnerungen zogen durch meinen Kopf. Ganz deutlich spürte ich die entsetzliche Angst, die mich damals ergriffen hatte, als ich merkte, daß Chodonla nicht mehr bei uns war. Diese Angst war mit Worten nicht annähernd zu beschreiben. Ich versank in dem Schmerz, der von dieser Erfahrung zurückgeblieben war. Meine Augen brannten, doch ich brachte keine Träne hervor.
    »Meine Eltern haben den Verlust niemals überwunden. Und ich…
    ich hatte solche Sehnsucht nach ihr, wenn du wüßtest! Und ich bin überzeugt, daß sie das gleiche empfindet… über all die Jahre hinweg. Es kann nicht anders sein! Wir sind Zwillinge, Atan.
    Zwillinge sind etwas Besonderes.«
    Er nickte. Seine Stimme klang dumpf und ruhig, als spreche er mit sich selbst.
    »Ja. Wir sagen, daß sie zusammengehören wie die zwei Hälften eines Sterns, zersprungen und erloschen nach einem Sturz auf die Erde… «
    Ich hob den Kopf.
    »Ach! Du verstehst diese Dinge…«
    Wir tranken unseren Kaffee, kauten Fladenbrot dazu. Ich erzählte, daß wir jahrelang nicht gewußt hatten, ob sie überhaupt noch am 165
    Leben war.
    »Später erfuhren wir, daß sie in China in einem Waisenhaus erzogen wurde und dann wieder nach Lhasa kam, wo sie als Lehrerin arbeitete. Vor acht Jahren reiste mein Onkel nach Tibet; er wollte Chodonla helfen, das Land zu verlassen. Sie lehnte den Vorschlag ab. Seitdem sind wir ohne Nachricht von ihr.«
    Er kniff leicht die Augen zusammen, blieb jedoch weiterhin stumm. »Und dann kam diese Sache mit meinem Vater. Er hat von dir gesprochen… «
    Er runzelte die Stirn.
    »Was meinst du damit? Ich kann dir nicht folgen. Dein Vater hat etwas über mich gesagt?«
    »Ja, oh ja! Er hat von einem Reiter gesprochen, dem ich in Nepal begegnen würde.«
    »Ich bin ein Reiter. Und wir sind in Nepal.«
    Ich schluckte zitternd. Er beobachtete mich.
    »Noch was?«
    »Ja. Er sagt, daß Chodonla in Not ist. Und daß du ihr helfen kannst.«
    Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht. Wir alle lehnen es ab, dachte ich, wenn jemand sich an unser inneres Selbst heranmacht.
    Doch er antwortete ganz ruhig:
    »Ich kenne deinen Vater nicht. Wie kommt er auf diesen Gedanken?«
    Meine Stimme klang unwirklich und tonlos.
    »Ich weiß es nicht. Er hat merkwürdige Dinge gesagt.«
    Atans dunkles Gesicht schien wie aus Mahagoni geschnitzt.
    »Erzähle es mir.«
    »Er leidet an einer Sinnesverwirrung«, seufzte ich.
    Der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht. Er wartete, daß ich weitersprach. Ich zögerte, kam mir linkisch vor. Die Worte meines Vaters hallten in meiner Erinnerung.
    Ich begann, schnell und betont leichthin zu sprechen.
    »Er sagte, du hättest Buddha als Flammengestalt gesehen.
    Und der weiße Yak sei zu dir gekommen. Solche Sachen. Weiße Yaks gibt es doch nicht, oder? Er schloß die Augen, vermeinte diese Dinge zu sehen. Nicht nur nachts. Tagsüber sogar, oder wenn wir beim Essen waren. Ich machte mir Sorgen um ihn. Meine Mutter hatte sich damit abgefunden. Laß ihn in Ruhe, er träumt, sagte sie.«
    Ich lachte ein wenig, aus lauter

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