Die Tiefe einer Seele
Alle Gäste waren bereits gegangen. Wills Prescott hatte seine Geburtstagsfeier eigentlich sofort abbrechen wollen, aber Silvia hatte ihm das ausgeredet, hatte sie doch noch die Hoffnung, dass es sich lediglich um einen Streit zwischen zwei Verliebten gehandelt hatte. Dass das nicht so war, hatte sie am Gesicht ihres Sohnes prompt erkennen können, als er ihnen mit hängenden Schultern entgegentrat und berichtete, was genau vorgefallen war.
Sie hatten die Polizei informiert, die sie aber, wie sollte es auch anders sein, vertröstet hatte. Erst wenn Amelie länger als 24 Stunden verschwunden war, würden sie aktiv werden. Daraufhin fuhren James, seine Brüder und sein Vater nochmals los, um sie zu suchen, während Erin und ihre Mutter sämtliche Krankenhäuser der Stadt abtelefonierten.
Am Morgen dann, als es immer noch keine Spur von Amelie gab, hatten sie Suchaufrufe über T&R gestartet, der firmeneigenen Fernsehanstalt. Zum Glück hatte Erin Amelie, nachdem sie ihr beim Ankleiden geholfen hatte, mit ihrem Handy fotografiert, so konnte ein aktuelles Bild von ihr gezeigt werden. Aber auch das hatte bislang nichts ergeben.
Jetzt war es 15 Uhr. Amelie war seit mehr als 19 Stunden verschwunden und James spürte, wie neben seiner körperlichen Kraft gleichwohl seine Hoffnung allmählich verloren ging. Er musste ständig an diesen Albtraum denken, der ihn mit rasender Geschwindigkeit einzuholen schien. So schnell und so unerbittlich. Ein trockener Schluchzer entwich seiner Kehle, und Erin strich ihm mitfühlend über sein wirres dunkles Haar.
James rieb sich noch einmal das Gesicht, dann setzte er sich aufrecht hin.
Reiß Dich zusammen, Prescott! Du wirst sie finden, ganz sicher! Und es wird ihr gut gehen!
Gebetsmühlenartig hämmerte er diese motivierenden Sätze in sein Hirn, und nach einigen Minuten hatte er sich wieder gefangen. Und schaute als Erstes auf sein Smartphone.
»Diese bescheuerten Cops!«, schimpfte er. »Wenn sie endlich ihren Arsch hochbekommen würden, könnten sie ihr Handy orten.«
Erin, die solche Kraftausdrücke von ihrem wohlerzogenen Bruder gar nicht kannte, schüttelte mit dem Kopf. »Das könnten sie nicht, denn dazu müsste Amy ihr Handy erst einmal einschalten. Du selbst hast zigmal versucht, sie zu erreichen. Sie hat es ausgeschaltet. Vielleicht kann man das sogar als ein gutes Zeichen werten. Sie ist sauer und will nicht mit Dir sprechen.«
»Oder sie hat es eben genau wegen dieser möglichen Ortung ausgestellt«, mischte Bill sich ein. »Damit man sie nicht finden kann, und sie in aller Ruhe das vollenden kann, was ihr zuvor nicht gelungen ist.«
»Bill, Du hältst sofort den Mund!«, fauchte Silvia Prescott ihren ältesten Sohn an, der erschrocken zusammenzuckte, als er merkte, dass er seine Gedanken laut ausgesprochen hatte.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich umgehend bei James, der ihn leichenblass und mit weitaufgerissenen Augen anstarrte.
»Schon gut!«, erwiderte dieser tonlos. Er konnte Bill nicht mal böse sein, schließlich drifteten seine eigenen Befürchtungen doch auch langsam aber sicher in dieselbe Richtung ab.
Erin stand auf, schenkte ihrem Bruder ein Glas Wasser ein und setzte sich wieder zu ihm. »Mein Gott James, ich verstehe echt nicht, warum Du Amy nichts von Elias erzählt hast.«, warf sie ihm nicht zum ersten Mal in diesen Stunden vor.
»Ich dachte, es wäre richtig, das vorläufig für mich zu behalten«, verteidigte er sich traurig. »Sie war doch in den letzten Tagen in einer deutlich besseren Stimmung. Ich wollte einfach sicher sein, dass das so bleibt, damit sie eine solche Nachricht auch verkraften kann.«
»Ich hoffe, Dir ist jetzt klar, dass Du ganz schönen Mist gebaut hast. Wie hattest Du Dir das vorgestellt? Wolltest Du sie für alle Ewigkeiten in Watte packen? Sie von jedem realen Leben wegschließen? Dass es auch ja keinen Anlass mehr für eine Depression geben kann? Herrje, ich weiß nicht, wie oft ich Dir das schon gesagt habe. Selbst wenn Du ihr eine rosarot angestrichene Welt offenbarst, kannst Du nie sicher sein, dass es nicht doch wieder losgeht. Du hilfst ihr nicht, indem Du Dinge, die sie belasten könnten, vor ihr verbirgst, verdammt. Wenn sie aus ihrer Situation raus will, dann muss sie lernen, damit umgehen zu können. Und das, mein lieber Bruder, wird mir von Tag zu Tag mehr klar, kann sie nur in einer Therapie und eben nicht an Deiner Seite. Von Anfang an hätte ich darauf pochen müssen, doch die Schwester in mir hat
Weitere Kostenlose Bücher