Die Tiefe einer Seele
der Halle, wo sich erst wenige Gäste aufhielten, entdeckte sie ihn, wie er halb verdeckt durch eine stuckverzierte Säule sein Smartphone an das Ohr hielt. Und er sendete, wahrscheinlich ohne es zu wollen, jede Menge Alarmsignale aus. Denn wie schon am Morgen, fuhr er sich nervös durch die Haare und kaute an seinen Nägeln. Beunruhigt ging Amelie auf ihn zu. Was zum Teufel beschäftigte ihn so sehr, und warum konnte er nicht mit ihr darüber sprechen?
Sie war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt und das, was sie hörte, ließ sie erstarren.
»Magda, bitte! Es ist jetzt der denkbar schlechteste Zeitpunkt, um Amelie das mit Elias zu sagen. Im Moment wirkt sie zwar stabil, aber Sie wissen genauso gut wie ich, wie schnell sich das ändern kann. Ich möchte ihr diese Nachricht ganz einfach noch ersparen.«
»Welche Nachricht?«
James fuhr herum, als er Amelies Stimme vernahm. Blass und vorwurfsvoll sah sie ihn an. Er schluckte. »Magda, ich rufe Sie zurück.« Er steckte das Handy in die Tasche seines Smokings und machte einen Schritt auf Amelie zu. Sie wich zurück.
»Welche Nachricht, James?«, wiederholte sie eindringlich. »Was ist mit Elias?«
Noch einmal fuhr er durch sein Haar, was ihm jedoch auch diesmal keine Erleichterung verschaffte. Verzweifelt rang er um die richtigen Worte, aber konnte es die überhaupt geben in so einem Moment?
»Es tut mir leid, Amy«, sagte er schließlich resignierend. »Dein Bruder hatte einen Schlaganfall. Er ist….« Weiter kam er nicht.
Amelie wollte es nicht hören. Sie drehte sich auf dem Absatz um und rannte so schnell sie nur konnte. Sie rannte weg vor James, weg vor all den Leuten, weg vor dem Hier und Jetzt, weg vor diesem lausigen Leben, mit dem sie wohl niemals würde Frieden schließen können.
Kapitel 46
11. Juni 2013 – Washington D.C.
»James, bitte! Du solltest Dich wirklich ein bisschen ausruhen. Seit wie viel Stunden bist Du nun schon auf den Beinen? Es müssen doch weit mehr als dreißig sein. Du wirst noch umfallen, wenn Du so weitermachst.« Silvia Prescott blickte besorgt auf ihren Sohn, der nach wie vor seinen Smoking trug, welcher allerdings kaum noch als solcher zu erkennen war, zerknittert und verdreckt, wie er war.
»Mom, Du kannst nicht wirklich von mir verlangen, dass ich jetzt schlafen gehe«, zischte James aufgebracht und schaute wieder auf sein Smartphone. Wie so oft in den vergangenen Stunden, und erneut tat er es umsonst, denn es gab keine Nachricht von ihr, kein Lebenszeichen. »Sie ist seit 19 Stunden verschwunden. Irrt da draußen völlig alleine rum. In einer Stadt, die sie nicht kennt. Und da soll ich mich in aller Seelenruhe ins Bett legen? Vergiss es, das werde ich ganz bestimmt nicht tun.« Er ließ sich in einen der Sessel in der Bibliothek sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Seine Eltern und seine Geschwister tauschten über seinen Kopf hinweg ratlose Blicke aus. Sie hatten keine Ahnung, wie sie hier helfen konnten. Erin hockte sich neben ihren Bruder und legte vorsichtig einen Arm um ihn. »Mach Dir keine Sorgen, James! Es wird ihr schon nichts passiert sein.« Sie wollte ihn trösten, ja, doch die grenzenlose Traurigkeit in ihrer Stimme bewies, dass sie selbst nicht glaubte, was sie sagte.
Natürlich war James Amelie sofort hinterhergelaufen. Aber, wie es dummer nicht hätte kommen können, kreuzte Tupper, der altgediente Butler der Prescotts, seinen Weg. Mit einem Servierwagen voller Champagner-Gläser. Es hatte einen schrecklichen Rums gegeben, als beide Männer samt diesen vermaledeiten Servierwagen zu Boden gegangen waren. James hatte das relativ glimpflich überstanden und hatte sich umgehend wieder aufgerappelt. Tupper hingegen hatte sich fürchterlich an den Scherben der zerbrochenen Gläser geschnitten und blutete stark. James hatte nicht einfach so weiterlaufen können. Erst als Erin herbeigeeilt war, um den alten Mann ärztlich zu versorgen, hatte er einen Blitzstart hingelegt und war nach draußen gestürmt. Doch von Amelie war nichts mehr zu sehen gewesen. Er hatte seinem Bruder Ruben, der gerade zur Party eintraf, den Autoschlüssel aus der Hand gerissen und hatte stundenlang die Straßen der Umgebung abgefahren, jedoch ohne Erfolg. Seine Freundin schien wie vom Boden verschluckt. Völlig aufgelöst war er um zwei Uhr in der Früh zurück zur Prescottschen Villa gefahren, wo die Familie auf ihn wartete, welche sich die ganzen Stunden über gefragt hatte, was denn bloß passiert war.
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