Die Tiefe einer Seele
die Ärztin verdrängt, das muss ich gestehen. Ich hätte es Dir gegönnt, James, dass Dein Plan funktioniert, aber leider ist es nicht so, und ich hoffe wirklich, dass es nun nicht zu spät ist.«
»Erin, hör jetzt auf!«, forderte Ruben sie eindringlich auf, der sah, dass James unter den harten Worten der Schwester immer weiter in sich zusammengesackt war. »Er ist sowieso schon total fertig, da musst Du nicht auch noch auf ihm rumhacken.«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern, stand auf und ging ans Fenster. Sie kam sich schäbig vor, denn eigentlich hatte sie James beistehen und nicht runtermachen wollen. Dazu quälte sie das schlechte Gewissen wegen Amelie. Sie hätte sie viel eher von einer professionellen Behandlung überzeugen sollen, nein, sie hätte es sogar müssen. Hatte sie doch einen Eid geleistet, der lebenslang für sie gelten würde, selbst wenn sie zukünftig vielleicht nicht mehr als Ärztin arbeiten würde. Aber sie hatte es immer wieder aufgeschoben, hatte so gerne daran glauben wollen, dass ihr Bruder alles war, was Amy brauchte. Dieses wunderbare Mädchen, das ihr in den paar Wochen auf Cape Cod wie eine Schwester ans Herz gewachsen war. Falls Amelie jetzt etwas zustieß, sie sich wohlmöglich etwas antun würde, dann würde sie mitschuldig sein. Genauso wie sie eine Mitschuld an Liams Tod trug. Noch einmal würde sie das kaum verkraften können. Deswegen war sie voller Angst und voller Wut, und nur deswegen hatte sie James angegriffen. Was natürlich nicht richtig war, aber sie hatte für das, was in ihr brodelte, dringend ein Ventil gebraucht und es in ihm gefunden.
Das Handy von William B. Prescott IV. klingelte. Die ganze Zeit hatte das Oberhaupt der Familie still an dem großen Schreibtisch in der Bibliothek gesessen und bekümmert das Geschehen verfolgt. Auch er hatte wenig Hoffnung, dass diese Geschichte hier gut ausgehen würde, und er wusste, dass, wenn Amelie wirklich etwas passiert wäre, es seinem Sohn den Rest geben würde. Dass das wohlmöglich heißen könnte, dass die Nachfolge in der Leitung von Prescott Publishing wieder fraglich sein würde, war in diesem Moment absolut ohne Bedeutung für ihn. Es ging ihm einzig und alleine um seinen Jungen, dem er doch immer, wie all seinen Kindern, ein gleich großes Glück gewünscht hatte wie jenes, das er mit ihrer Mutter, mit Silvia, teilte. Darum sendete er ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel, dass der liebe Gott nicht noch einmal so grausam sein solle, James das Liebste zu nehmen, was er auf Erden hatte. Das Klingeln seines Handys riss ihn nun aus seiner Andächtigkeit. Er nahm das Gespräch an, stand dann aber auf und ging in den Nebenraum. Nach wenigen Minuten kam er zurück und seine Familie konnte seiner Miene entnehmen, dass er Neuigkeiten hatte.
»Das war Hudson, der Chefredakteur von T&R News«, verkündete er strahlend. »Es hat sich jemand auf den Suchaufruf gemeldet. Amy wurde gesehen. In der Nähe des Hauptbahnhofes. Die Frau, die angerufen hat, war sich absolut sicher, dass es Amy war. Kinder, vielleicht ist alles ganz anders, als wir denken. Wahrscheinlich ist sie so wütend auf James, dass sie nur weg will. Ich frage mich allerdings, wohin. Sie kennt ja außer uns niemanden in den Staaten.« Er verstummte und sah erwartungsvoll in die Gesichter seiner Lieben. Zwar hatte er keine Begeisterungsstürme erwartet, ein wenig mehr Zuversicht hingegen allemal. Doch was ihm da entgegenschlug, waren Blicke tiefster Verzweiflung und fassungslosen Entsetzens.
»Was zum Teufel….?«, begann er verunsichert, hielt aber inne, als Silvia leichenblass auf ihn zutrat.
»Gleise, Wills«, flüsterte sie kaum hörbar. »Sie könnte zu den Gleisen wollen!« Noch immer verstand der alte Prescott nicht, dann endlich fiel der Groschen. »Oh nein«, stieß er aus und griff nach der Hand seiner Frau.
»Nein, nein, nein!«, schrie James plötzlich auf. »Ich weigere mich, an so etwas zu glauben. Sie macht das nicht, sie tut mir das nicht an. Ganz bestimmt nicht! Weil sie mich liebt und weiß, dass ich sie genauso liebe. Sie lebt und wird zu mir zurückkommen, das weiß ich. Ich weiß es einfach!«
Erschrocken sahen die Eltern und die Geschwister, wie James von seinen Emotionen vor ihren Augen beinahe zerrissen wurde. Wie er immer weiter gegen diese Hoffnungslosigkeit anschrie und tobte, dass es ihnen Angst und Bange um ihn wurde. Bill und Ruben nahmen ihn in ihre Mitte, drängten ihn, sich wieder zu setzen und redeten sachte
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