Die Time Catcher
Sinn, das ich darauf abstellen möchte«, sagt Onkel. »S chaut mal her!«
Als er mit den Fingern schnippt, leuchtet der Monitor in seinem Büro auf. In der nächsten Sekunde erscheint darauf die 3-D-Ansicht einer Vase.
»N ur eine ganz gewöhnliche Vase, oder?«
Bei jedem anderen Fragesteller hätte ich spontan mit Ja geantwortet. Die Vase hat einen langen Hals und zwei geschwungene Henkel. Sie ist cremefarben, der aufgemalte Phoenix sowie der fliegende Drache sind blau. So etwas findet man im Prinzip bei jedem besseren Antiquitätenhändler auf der Second Avenue. Doch wir reden hier schließlich von Onkel.
»D ieses Bild ist nicht der Fantasie des Künstlers entsprungen. Es ist die detailgetreue Darstellung einer existierenden Vase«, fügt er hinzu. »W er genau hinsieht, der entdeckt auf dem Fuß der Vase eine Inschrift: Sie lautet Da Ming Xuan De Nian Zhi, was bedeutet, dass sie während der Ming-Dynastie hergestellt wurde, zur Regierungszeit des Kaisers Xuande. Wir wissen auch, dass der Künstler Wu Yingxing hieß und das gute Stück am 23. April 1423 im chinesischen J ĭ ngdézhèn angefertigt hat. Es wurde dem Kaiser am 28. September 1425 als Geburtstagsgeschenk überreicht. Die Vase verließ China am 10 . Mai 1431 an Bord eines Schiffes, das von dem berühmten Admiral Zheng befehligt wurde. Die Überfahrt war gefährlich, und als das Schiff von Piraten angegriffen wurde, wäre es fast gesunken. Doch schließlich haben sowohl das Schiff als auch Xuandes Vase die Reise unbeschadet überstanden.
Nach seiner Ankunft im Osmanischen Reich wurde die Vase Sultan Murad II verehrt. Danach gibt es keine Quellen, die über den weiteren Verbleib der Vase Auskunft geben. Sie taucht erst 1967 wieder auf, als sie im Rahmen der Weltausstellung in Montreal präsentiert wurde. Danach verschwindet sie erneut von der Bildfläche.«
Was für ein Informationsüberfluss. Ich hoffe, Onkel kommt nicht auf die Idee, uns gleich abzufragen. Falls doch, werde ich jämmerlich versagen – vor allem bei der Aussprache all dieser seltsamen Namen.
Eine lange Stille tritt ein. Onkel wendet sich langsam ab. Als er sich wieder zurückdreht, zoomt die Kamera sein Gesicht heran. Er hat feuchte Augen bekommen. Die Ader auf seiner Stirn ist vollkommen ruhig, ein seltener Anblick.
»E ntschuldigt, dass ich meine Gefühle nicht zurückhalten kann«, sagt Onkel, indem er sich eine Träne fortwischt, »a ber der Gedanke, dass ein so wertvoller Gegenstand tatsächlich vom Erdboden verschwinden könnte, ist mir fast unerträglich.
Vielleicht fragt ihr euch jetzt, was diese Vase denn eigentlich so wertvoll macht. Sie ist ja bei Weitem nicht die einzige, die aus der Ming-Dynastie stammt. Und manch andere sind vielleicht sogar noch schöner. Doch jetzt zeige ich euch, was diese Vase so unvergleichlich macht.«
Während er innehält, schwenkt die Kamera durch sein Büro und verharrt für einen kurzen Moment an dem zierlichen Bambustischchen, bevor sie den Fuß der Vase heranzoomt.
»S chaut genau hin. Seht ihr den kleinen Stern neben der königlichen Inschrift?«
Ich nicke. Abbie sagt »J a«.
»D ieser Stern ist das Symbol des Hauses Konfuzius. Er sagt uns, dass Wu Yingxing der Nachfahre eines der größten chinesischen Philosophen, ja vielleicht eines der größten Denker aller Zeiten war.
Im Laufe seines Lebens hat Wu mehr als zweitausend Kunstgegenstände hergestellt, darunter etwa dreihundert Vasen und andere Keramik. Doch nur die Xuande-Vase trägt außer der kaiserlichen Inschrift noch das Symbol des Konfuzius. Die Gelehrten, die ich konsultiert habe, vertreten hierzu zwei verschiedene Theorien. Manche glauben, die Vase sei von Kaiser Xuande, der selbst ein Nachfahre von Konfuzius war, persönlich in Auftrag gegeben worden, und Wu habe sich beim Kaiser einschmeicheln wollen. Die andere Theorie besteht darin, dass Wu erst gegen Ende seines Lebens von seiner Verwandtschaft zu Konfuzius erfahren habe. Da die Vase sein letzter bedeutender Kunstgegenstand gewesen sei, habe er sie mit dem Sternsymbol versehen. Doch meine eigenen Recherchen machen eine dritte Theorie wahrscheinlich. Eine Theorie, die ich für mich behalten möchte, bis ich die Vase in Händen halte.«
Eine faszinierende Geschichte. Ich blicke zu Abbie hinüber, deren Mund offen steht.
Die Kamera zoomt Onkels Gesicht heran. »I hr habt den Auftrag, die Vase des Xuande auf der Expo ’67 zu stehlen, ehe sie verschwindet«, fährt er fort. Sein Ton klingt jetzt sehr
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