Die Time Catcher
Schildkröten arbeiten sich weiter in mein ungeschütztes Fleisch vor. Die Schmerzen sind schier unerträglich. Ich habe das Gefühl, jeden Moment das Bewusstsein zu verlieren.
»D o…doch, Onkel«, stammele ich.
»G ut, dass wir derselben Meinung sind.«
Er zieht meinen Arm aus dem Wasser und lässt mich los. Ich umfasse mit der anderen Hand mein verletztes Handgelenk.
»U nd?«, fragt Onkel. Aber es ist mehr ein Befehl als eine Frage. Vorsichtig öffne ich meine Hand und stecke mir das Gummibärchen in den Mund.
Als ich aufblicke, lächelt er.
»G eh jetzt, Caleb«, sagt er.
Ich zittere am ganzen Körper und gebe mir keine Mühe, es zu verbergen. Bevor ich den Raum verlasse, sehe ich aus dem Augenwinkel heraus, wie Shu Fang und Ting Ting im Aquarium kreisen, offenbar auf der Suche nach einem Ausgang. Doch es gibt keine Fluchtmöglichkeit. Nicht für sie. Und auch nicht für mich.
23. Juni 2061, 10:36 Uhr
Edles für die Ewigkeit, Hauptquartier
Tribeca, New Beijing (früher New York City)
K omm mit«, sagt Nassim, als ich aus Onkels Büro komme.
Ich folge ihm in den dritten Stock hinunter.
Offensichtlich haben die Verschönerungsmaßnahmen Nassims Büro noch nicht erreicht, das nach wie vor sehr schlicht eingerichtet ist: weder sprudelnde Wasserkühler noch steinerne Löwen, nicht einmal eine einzige dreibeinige Krötenskulptur. Der einzige persönliche Gegenstand ist ein kleines Foto in einem schmucklosen Holzrahmen, das auf dem Schreibtisch steht. Es zeigt einen Mann, der rittlings auf einem kastanienbraunen Pferd sitzt. Sähe der Mann nicht viel älter aus als Nassim, könnte er sein Zwillingsbruder sein. Alles gleich, der markante Kiefer, die hohen Wangenknochen, die flache Nase. Ich habe das Foto früher schon mal gesehen. Ich vermute, es handelt sich um Nassims Vater, aber ich habe ihn nie gefragt, weil es mir zu privat erscheint.
Ich sitze still auf einem Stuhl, während Nassim sich an einem Erste-Hilfe-Kasten zu schaffen macht.
»I ch denke, damit wird’s gehen«, sagt er, nimmt einen Gazetupfer und sprüht ihn mit Desinfektionsmittel ein. Ich verziehe das Gesicht, als er vorsichtig meine Wunde reinigt.
»S ieht mir ganz nach Shu Fang aus«, sagt er und zieht eine elastische Binde aus dem Kasten.
»W oran willst du denn das erkennen?«, frage ich. Nichts gegen Schildkröten, aber sehen die nicht alle identisch aus?
»S chau mal«, entgegnet er und zieht seinen linken Ärmel nach oben. Auf dem Unterarm sind mehrere hässliche Bissspuren und Zahnabdrücke zu sehen. »D as ist Shu Fang.«
Dann rollt er auch seinen rechten Ärmel nach oben. Die Abdrücke darunter sind noch tiefer und hässlicher als die anderen. »U nd das ist Ting Ting.«
Warum zeigt er mir das? Will er mich ins Vertrauen ziehen, um mich aushorchen und hinterher Onkel alles verraten zu können? Nein, so ein Typ ist Nassim nicht. Vielleicht will er mir zu verstehen geben, dass ich nicht allein bin in meinem Elend und auch er schon das Vergnügen hatte, Onkels Bosheit ausgeliefert zu sein.
Der Verband ist fertig. »S o, das sollte halten«, sagt er und legt den Erste-Hilfe-Kasten in die Schublade zurück.
»D anke«, entgegne ich. »D as ist sehr nett von dir.« Ich drehe mich um und will den Raum verlassen.
»G ern geschehen, Caleb«, sagt Nassim. »W ir sehen uns beim Abendessen. Was gibt’s eigentlich heute?«
Was es heute … Oh, verdammt, ich hätte fast vergessen, dass ich mit dem Kochen dran bin.
»I ch nenne es Beijing Pasta«, antworte ich rasch.
»H ört sich spannend an.«
»I st es auch, glaub mir.« Den Namen des Gerichts habe ich schon mal. Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie man es zubereitet.
»O nkel lässt sich entschuldigen, weil er heute Abend leider nicht bei uns sein kann«, sagt Nassim, nachdem wir gerade an den Tischen Platz genommen haben. »D och er hat uns ausdrücklich gebeten, mit unserem Chinesischunterricht fortzufahren. Das Wort des heutigen Abends lautet zuò mèng, was zu träumen bedeutet. Ihr müsst entweder zuò mèng oder das Substantiv mèng benutzen oder einen mèng beschreiben, den ihr kürzlich hattet.«
Der einzige Vorteil des Kochdienstes besteht darin, bei diesen dämlichen Wortspielen nicht der Erste zu sein.
»C aleb, du fängst an«, sagt Nassim.
Wieder mal geirrt. Ich tue so, als wäre ich sehr beschäftigt damit, den anderen meine Beijing Pasta zu servieren. Bis jetzt habe ich für das Essen nicht annähernd so viele Komplimente bekommen wie Mario für seine
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