Die Time Catcher
ich kann es bald herausholen.«
Bald. Ein dehnbares Wort. Es kann alles zwischen zwei Sekunden und zwei Jahren bedeuten, je nachdem, wer spricht und um was es geht.
Ich will gerade meinen Mund öffnen, um Wu eine Antwort abzunötigen, wie »b ald« zu verstehen ist, als ich hinter dem nächsten Hügel einen gewissen Tumult wahrnehme. Ich drehe mich um und sehe in etwa fünfzig Metern Entfernung einen langen Zug von Menschen auf uns zukommen.
Mein Magen zieht sich zusammen, als ich zwischen den Personen ein weißes, von schwarzen Locken eingerahmtes Gesicht erblicke.
Ich gehe sofort hinter Wu in die Knie. Es besteht ja die Möglichkeit, dass Mario mich noch nicht entdeckt hat. Ich muss jetzt schnell handeln. Aber einen glühend heißen Brennofen kann man nicht antreiben.
Meine Augen wandern zwischen Marios Prozession und Shen, der neben dem Brennofen steht, hin und her. Mario und die anderen sind nur noch knapp dreißig Meter von mir entfernt.
In diesem Moment öffnet Shen die Türen des Ofens und tritt ein.
Ich sprinte auf den Brennofen zu. So habe ich mir das zumindest vorgestellt. Doch meine Beine fühlen sich so schwer an, dass aus dem geplanten Sprint nur ein schwerfälliges Stapfen wird.
Nach einer gefühlten Ewigkeit verschwinde ich schließlich im Inneren des Ofens und ziehe die Türen hinter mir zu. Die gewaltige Hitze, die mir entgegenschlägt, nimmt mir fast die Luft zum Atmen.
Hier drinnen ist es dunkel, aber die kleinen Löcher lassen genug Licht hindurch, dass ich mich orientieren kann. Ich lege meine Kutte ab. »W o ist sie, Shen?«, frage ich und versuche, die eines Gottes unwürdige Verzweiflung in meiner Stimme zu verbergen.
»H ier, Großer T’un!«, antwortet er und zeigt auf einen schmalen Absatz, der sich auf der zweiten Ebene des Ofens befindet.
Und dort steht sie. Die Vase des Xuande. Auch im Zwielicht sieht sie fantastisch aus. Der Drache und der Phoenix, beide in Kobaltblau, erstrahlen in jedem Detail. Der Gesamteindruck ist überwältigend. Wie merkwürdig, dass ich es so empfinde. Schließlich habe ich die Vase schon als Holografie und als Duplikat gesehen. Aber es geht wohl nichts über den Anblick des Originals.
Ein erneuter Schwindel erfasst mich, und ich taste nach einem Halt. Doch es gibt nichts, woran ich mich festhalten könnte, also sinke ich auf die Knie. In meinem Kopf dreht sich alles, für einen Moment vergesse ich, wo ich bin. Ich versuche, meine Arme zu bewegen, doch spüre ich keine Verbindung zu ihnen, als gehörten sie einem anderen.
Shen lässt sich neben mir auf die Knie sinken und sieht völlig perplex aus. Normalerweise würde ich jetzt irgendwas Beschwichtigendes sagen, doch habe ich schon genug mit mir selbst zu tun.
Ich schließe meinen Augen für einen Moment, ehe ich sie wieder öffne. Kann mich vage daran erinnern, dass ich etwas Wichtiges tun sollte, aber was?
Ach ja, eine Vase. Es hat mit einer Vase zu tun.
Auf allen vieren krieche ich der wunderschönen Vase, auf der ein fliegender Drache sowie der Vogel Phoenix abgebildet sind, entgegen.
Die Vase ist zweifach gekennzeichnet, zum einen durch das Herrschaftssymbol, zum anderen, direkt darüber, durch einen kleinen Stern, der für das Haus des Konfuzius steht.
Ich atme tief durch und sauge die heiße Luft ein. Meine Gedanken werden klarer, und plötzlich fällt mir blitzartig ein, warum ich hierhergekommen bin.
Während Shen mir zusieht, hole ich das Duplikat aus meiner Tasche und stelle es neben die Originalvase. Ich benutze meine Kutte, um die Vase aufzunehmen und in meine Tasche gleiten zu lassen. Die Hitze, die ich durch den Stoff hindurch spüre, ist so groß, dass ich sie fast fallen gelassen hätte.
Rufe. Ganz in der Nähe.
Shen bewegt sich nicht vom Fleck und sagt kein Wort. Er scheint wie paralysiert zu sein. Ich kann mir vorstellen, was ihm durch den Kopf geht.
Wahrscheinlich fragt er sich, ob ich ein Gott oder ein Dieb bin. Doch ganz gleich, wie die Antwort ausfällt, ist er nicht zu beneiden. So oder so wird er den anderen einiges zu erklären haben.
Denn ich werde nicht hierbleiben.
Die Türen zum Brennofen werden aufgestoßen. Wütende Rufe schallen durch das Zwielicht. Bevor ich auf mein Handgelenk tippe, fällt mein Blick auf einen Gegenstand. Es ist eine cremefarbene Schildkröte aus Porzellan.
Ohne näher darüber nachzudenken, benutze ich erneut meine Kutte, um mir die Schildkröte zu schnappen und neben der Vase in meiner Tasche verschwinden zu lassen.
Das Letzte,
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