Die Time Catcher
sein. Der hat seine Emotionen jederzeit im Griff.
»H i«, antworte ich. »O nkel erwartet mich.«
»O kay, dann mal los.«
Der große Kerl dreht sich um und ich folge ihm den Flur entlang.
Ich versuche, mir einzureden, dass ich nichts zu befürchten habe. Und je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass Mario mich unmöglich überlistet haben kann. Ich habe die Xuande-Vase zum frühest möglichen Zeitpunkt an mich gebracht. Wäre Mario mir zuvorgekommen, hätte er die Hitze des Ofens nicht ausgehalten, und die Vase wäre auch noch gar nicht fertig gebrannt gewesen. Warum kommt es mir dann so vor, als ginge ich zu meiner eigenen Hinrichtung?
Die Tür zu Onkels Büro gleitet auf. Nassim und ich treten ein.
Mario und Abbie sitzen im Schneidersitz auf dem Boden, mit dem Rücken zu mir. Onkel steht vor dem Aquarium und stemmt die Hände in die Hüften. In seinem flaschengrünen Hanfu mit rotem Drachenmuster auf den Ärmeln und passender roter Schärpe sieht er äußerst elegant aus.
In der Mitte des Raumes stehen zwei Vasen auf zwei schmucklosen kleinen Tischen. Ich frage mich, was mit dem kleinen Bambustischchen passiert ist, das Onkel uns auf der Holografie gezeigt hat.
Von hier aus sehe ich zwischen den Vasen nicht den geringsten Unterschied. Vor der linken Vase steht eine einfache weiße Karte mit der Aufschrift MARIO . Eine zweite Karte mit den Namen von Abbie und mir steht vor der rechten Vase.
Niemand hebt auch nur den Blick, als ich eintrete. Onkel scheint von seinem Aquarium vollkommen gebannt zu sein. Was seltsam ist, weil dort nichts geschieht, sofern man Shu Fang und Ting Ting außer Acht lässt, die träge durch das Wasser gleiten.
»C aleb, zăo shàng hăo! «, sagt Onkel und dreht sich um.
»G uten Morgen, Onkel.«
»B itte!« Er deutet auf den Boden neben Abbie und Mario.
Nassim hat sich neben der Tür postiert und die Arme vor der Brust verschränkt.
Als ich mich hinsetze, wirft mir Mario einen raschen Blick zu, doch ich beachte ihn nicht.
»D ann lasst uns anfangen, da wir nun vollzählig sind«, sagt Onkel. »I hr fragt euch vielleicht, warum ich euch heute Morgen hierher gerufen habe. Oder vielleicht nicht? Ich vermute, ihr könnt euch den Grund denken. Schließlich seid ihr alle drei sehr intelligent.«
Aus dem Augenwinkel heraus spähe ich zu Abbie hinüber. Sie sitzt stocksteif da und sieht so angespannt aus, wie ich mich fühle.
»U nd da ihr also drei scharfsinnige Time Catcher seid, werdet ihr bereits bemerkt haben, dass etwas in diesem Raum nicht so ist, wie es sein sollte. Was meinst du, Caleb?«
Mein Mund ist trocken, und meine Stimme krächzt, als ich zu sprechen beginne: »E s stehen zwei Vasen da statt einer.«
»E xakt. Aber warum sollte ich mich darüber beklagen? Ich habe euch ausgeschickt, um die Vase des Xuande zu stehlen, und ihr kommt mit zwei Vasen zurück. Eigentlich sollte ich überglücklich sein, nicht wahr?«
Er lässt die Frage in der Luft hängen. Niemand von uns traut sich, auf sie einzugehen.
»D och in diesem Fall gibt es nur eine echte Vase. Nicht wahr, Abbie? Die andere muss eine Fälschung sein.«
»D as stimmt, Onkel«, antwortet Abbie.
Ich bewundere sie dafür, dass nicht das geringste Zittern in ihrer Stimme zu erkennen ist.
Onkel geht zum Aquarium zurück und drückt auf einen Knopf seines Instrumentenbords. Ein ganzer Schwarm kleiner Goldfische strömt in das Aquarium. Ting Ting stürzt sich sofort auf sie, schnappt nach den Fischen und zermalmt sie mit seinen Kiefern. Shu Fang scheint geduldig zu warten, was für ihn übrig bleibt.
»W ir haben hier ein Dilemma. Mario, ich will mit dir anfangen. Dies war nicht deine Mission. Wie kommt es, dass du trotzdem an ihr beteiligt warst?«
»D as stimmt, Onkel«, sagt Mario. »E s war nicht meine Mission. Aber ich habe Abbie und Caleb zufällig auf der Expo ’67 gesehen, als ich dort … etwas anderes zu tun hatte. Also habe ich beschlossen, sie im Auge zu behalten, um sicherzugehen, dass sie die Sache nicht verpfuschen.«
»W as veranlasst dich zu dem Gedanken, die beiden könnten einen Babysitter brauchen?«, fragt Onkel. Seine Stimme ist kalt. So habe ich ihn noch nie mit Mario reden hören.
Ich spüre, wie Mario sich windet. Auf diese Frage eine gute Antwort zu geben, ist unmöglich. Selbst für Mario.
»I ch … ich weiß nicht, Onkel. Ich hatte nur so ein Gefühl.«
Onkel geht vor dem Aquarium bedächtig auf und ab, die Hände auf dem Rücken. Er
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