Die Time Catcher
Vase diesmal ein anderes Geräusch erzeugt hat. Aber dieser Gedanke wird von einem Schrei in meinem Kopf übertönt: Er hat die echte Xuande-Vase zerstört!
Die zerbrochenen Überreste der Xuande-Vase liegen auf dem Tisch. In aller Ruhe legt Onkel den Hammer weg, nimmt zwei Scherben in die Hand, betrachtet sie ausgiebig und legt sie wieder auf den Tisch. Dann hebt er die größte Scherbe auf und dreht sie in seinen Händen hin und her.
Während er das tut, bemerke ich auf der einen Seite des Bruchstücks etwas, das wie eine dünne schwarze Linie aussieht. Zunächst denke ich, sie ist aufgemalt, doch als Onkel das Fragment weiterhin von allen Seiten begutachtet, erkenne ich, dass es gar keine Linie ist. Es ist eine Öffnung. Das Stück ist hohl.
Onkel greift unter seinen Hanfu und zieht eine Pinzette hervor. Dann führt er sie in die schmale Öffnung der Scherbe ein.
Mein Mund wird trocken. Rechts und links von mir recken Abbie und Mario ihren Hals.
Als er die Pinzette wieder herauszieht, ist etwas zwischen ihren Enden eingeklemmt. Ein Stück Papier? Nein, kein Papier. Aber etwas, das papierdünn ist.
Ein Lächeln umspielt Onkels Lippen, als er das spröde Fragment ins Licht hält. »A ußerordentlich. Weißt du, was ich hier in der Hand halte?«, fragt er.
Ich bin froh, dass er nicht meinen Namen hinzugefügt hat, weil ich keine Ahnung habe.
»D ieses Fragment enthält eine der frühesten Versionen der Analekten des Konfuzius. Hast du schon mal von den Analekten gehört, Caleb?«
»N ein, Onkel, das habe ich nicht.«
»D ie Analekten sind die Lehrgespräche des Konfuzius, die erstmals von seinen Schülern aufgezeichnet wurden. Einer seiner gelehrigsten Schüler war sein Enkelsohn Zisi, der die Lehrsätze seines Großvaters auf Bambusstreifen niederschrieb. Die Nachfahren des Konfuzius gaben diese Streifen von Generation zu Generation weiter. Einige von ihnen hat ein Kunsthandwerker namens Wu Yingxing erworben.«
Onkel ist ganz in seinem Element. Ich versuche, mich auf die Geschichte zu konzentrieren, doch kann sich mein Blick nicht von den Scherben der Xuande-Vase lösen.
»W u hatte keine Kinder, denen er diesen Schatz hätte vererben können. Als er alt war und spürte, dass der Tod nahte, entschied er sich dazu, etwas Außerordentliches zu tun. Er fertigte eine Vase mit hohlen Wänden an, in denen er die kostbaren Bambusstreifen deponierte. Und um diese Vase zu markieren, hat er sie mit dem Symbol des Konfuzius versehen.«
Onkel schaut von mir zu Mario. Ich stoße einen langen Seufzer aus.
»E s hat sich also gezeigt, Mario, dass deine Vase ein Duplikat und die von Abbie und Caleb das Original war.«
Mario schweigt.
Onkel macht einen Schritt nach rechts, bückt sich und hebt eine Scherbe vom Boden auf. Es ist ein längliches, halbmondförmiges Teil des Duplikats. Mit dem Mittelfinger streicht er über die gezackte Bruchkante und lächelt.
»H örst du in letzter Zeit schlecht, Mario?«
»N ein, Onkel.« Marios Stimme zittert leicht.
»D as ist merkwürdig, weil ich dir klipp und klar gesagt habe, dass du dich in Abbies und Calebs Aufträge nicht einmischen sollst.«
Onkel drückt die Scherbe tief in seinen eigenen Handteller hinein. Für einen Augenblick denke ich, er will sich schneiden, doch zieht er die Scherbe im letzten Moment wieder zurück.
Mario sieht ihm wie gebannt zu.
»N un, da du mir versicherst, dass mit deinem Gehör alles in Ordnung ist, muss ich davon ausgehen, dass du ein wenig zerstreut warst, als ich mit dir geredet habe. Dass du mir vielleicht nur mit einem Ohr zugehört hast. Könnte das deiner Meinung nach der Fall gewesen sein?«
Mario nickt. Mein Herz hämmert. Onkel steuert auf irgendetwas zu.
»I ch bin froh, dass du mir zustimmst«, sagt Onkel. »D iesen Verdacht habe ich auch gehabt.«
Mit einem Sprung ist Onkel bei ihm. Mit der Schnelligkeit einer Schlange zieht er Mario an den Haaren zu sich heran, lässt die Scherbe durch die Luft sausen und schneidet damit tief in Marios rechtes Ohr.
»M ein Ohr!«, schreit Mario mit schmerzverzerrter Stimme und fasst sich ungläubig an die Seite seines Kopfes.
»W arum bist du so überrascht?«, fragt Onkel. »D u hast doch selbst zugegeben, dass du nur ein Ohr benutzt. Also brauchst du dein anderes wohl nicht.«
Ich bin vor Schreck wie gelähmt.
»N assim, begleite Mario bitte hinaus«, sagt Onkel. »U nd kümmere dich um sein Ohr. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn das Blut nicht auf den Teppich
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