Die Time Catcher
Familien zu entreißen, ist ein Verbrechen.
Während Onkel spricht, höre ich einen kurzen Aufschrei und erblicke einen Trainer und einen Rekruten. Der Junge will etwas vom Boden aufheben, es ist ein glänzender Metallgegenstand. Eine Mundharmonika. Doch der Trainer konfisziert sie im nächsten Moment.
»D iese Einrichtung«, fährt Onkel fort, »k ann ohne Weiteres achtzig Rekruten beherbergen. Mit ein bisschen Kreativität sollte es uns also gelingen, weitere zwanzig hier reinzuquetschen. Stellt euch das vor: einhundert Time Catcher unter einem Dach! Eine gewaltige Zahl! Das ist wahrer Fortschritt, meine Freunde. Schon bald werden diese neuen Rekruten so weit ausgebildet sein, dass sie in der Lage sind, an eurer Seite durch die Jahrhunderte zu reisen und der Vergangenheit wertvolle Gegenstände zu entreißen, um unsere Kunden glücklich zu machen.«
Um Worte war Onkel noch nie verlegen. Er ist der Einzige, der Diebstahl so beschreiben kann, als wäre es ein Dienst an der Allgemeinheit.
»P hase II «, fährt er fort, »w ird sich dem widmen, was ich Tandem-Catchs nennen möchte. Hin und wieder kommt es vor, dass Kunden die Echtheit der Gegenstände, die wir ihnen beschaffen, in Zweifel ziehen. Um diese zu zerstreuen, werde ich einzelne Kunden dazu einladen, unsere Teams bei ihren Einsätzen zu begleiten, um sich persönlich von der Authentizität der Gegenstände zu überzeugen. Könnte es einen besseren Beweis geben?«
Ich kann es nicht glauben. Nie im Leben. Die Einsätze sind schon hart genug, und jetzt sollen wir auch noch die Verantwortung für einen zeitreisenden Touristen aufgehalst bekommen?
»W enn wir die Besten sein wollen«, spricht Onkel weiter und zieht seine Schärpe gerade, »d ürfen wir keine Angst davor haben, große Ideen in die Tat umzusetzen. Das lehrt uns die Geschichte. Als ich kürzlich im Fernen Osten war, habe ich einen Abstecher zur Chinesischen Mauer unternommen. Was für ein gewaltiges Bauwerk! Stellt euch einen Wall vor, der sich auf achttausend Kilometern Länge über Ebenen, Berge und Täler erstreckt. Das übersteigt fast das menschliche Vorstellungsvermögen. Und wisst ihr, wie es dazu kam?«
Er macht eine Pause, und ich bete, dass er die Antwort nicht von mir hören will. Chinesische Geschichte ist nicht gerade eins meiner Fachgebiete.
»I ch werde es euch erzählen«, fährt er fort, und ich stoße erleichtert die Luft aus. »D ie Große Chinesische Mauer war der Traum eines einzigen Mannes, des ersten Kaisers von China, Qín Shĭhuáng. So beginnen große Dinge, liebe Freunde – als einfache Idee. Und so wie Qín Shĭhuáng Hilfe benötigte, um seinen Traum zu verwirklichen, habe auch ich mir einen Helfer aus euren Reihen ausgesucht, um meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.«
Onkels Augen richten sich auf Mario. Nein. Bitte sag es nicht.
»D iese Person ist … Mario«, sagt Onkel.
Meine Beine drohen einzuknicken.
Ich schaue zu Abbie hinüber. Sie strahlt Mario an, als könne sie es kaum erwarten, zu ihm zu eilen und ihre Arme um ihn zu schlingen.
»M ario wird die Phase I des Metamorphose-Projekts koordinieren: das Einsammeln von Kindern an Orten, an denen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit viele Kinder versammelt waren. Ihr alle werdet von nun an Mario unterstellt sein«, sagt Onkel, »u nd er wird an mich berichten. Noch irgendwelche Fragen?«
Nein, sicher nicht. Jetzt, da Mario mein Chef ist, kommt in mir ein Gefühl hoch, das ich nie für möglich gehalten hätte – ich sehne mich nach den alten Tagen zurück, in denen ich meine Befehle direkt von Onkel empfing.
Ich flehe im Stillen, Onkel möge keine weiteren Neuigkeiten mehr in petto haben und die Zusammenkunft beenden. Doch schon schnellt, wie könnte es anders sein, Lydias Hand nach oben. Ein Lächeln huscht über Onkels Gesicht.
»L ydia hat eine Frage«, sagt er. »S chieß los!«
»D anke, Onkel«, entgegnet sie. »M ich würde interessieren, wie es möglich ist, so viele Kinder zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten der Vergangenheit einzusammeln, ohne damit den Lauf der Geschichte zu beeinflussen. Ich meine, birgt die Tatsache, dass wir sie ihren Familien wegnehmen und hierherbringen, nicht ein gewisses Risiko, dass wir damit die Zukunft der Welt, wie sie sich dargestellt hat, im Nachhinein manipulieren? Und falls dies der Fall ist, setzen wir damit nicht unser eigenes Leben und die Existenz von Edles für die Ewigkeit aufs Spiel?«
Lydia lächelt
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