Die Time Catcher
warum?
Bald wird es dunkel werden. Obwohl ich todmüde bin, muss ich einen geschützten Ort für die Nacht finden. Da ich weit und breit nichts sehe, das hierfür infrage käme, trotte ich weiter.
In der Ferne erkenne ich zwei Berge: grau und rot. Sie muss ich erreichen.
Während ich gehe, verändert sich der Grund unter meinen Füßen. Kiesel und Sand weichen immer größeren Steinplatten. Bei zunehmender Dunkelheit kann ich immer schwerer erkennen, wohin ich meine Füße setze. Zwei Mal falle ich hin und beide Male rappele ich mich mühsam wieder auf.
Instinktiv reibe ich mir die Augen und schalte auf Nachtsicht. Halt, wie ist das möglich? Mein Okular muss immer noch implantiert sein. Vermutlich fand es Onkel zu beschwerlich, es ebenfalls zu entfernen.
Die Müdigkeit hat mich fest im Griff. Meine Beine wollen jeden Moment einknicken. Auf der nächsten Steinplatte verlassen mich endgültig die Kräfte und ich sinke zu Boden. Auf allen vieren krieche ich dorthin, wo sich zwischen zwei Platten ein kleiner Hohlraum befindet. Dort quetsche ich mich hinein.
Als ich aufblicke, sehe ich zum ersten Mal die Sterne über mir funkeln. Für einen Moment vergesse ich alles andere und betrachte das glitzernde Himmelszelt. Ob Abbie in diesem Moment dieselben Sterne ansieht? Ich frage mich, ob sie an mich denkt.
Muss mich ausruhen. Nur für ein paar Stunden. Dann mache ich mich wieder auf den Weg.
Mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe, gilt Ben. Arme strecken sich nach ihm aus. »H ilf mir, Caleb!«, ruft er, während er versucht, sie mit seinen fünfjährigen Fäusten abzuwehren. »H alte durch!«, will ich zurückrufen. Doch aus meiner ausgedörrten Kehle dringt kein Laut.
In der Wüste, Tag 2
I ch erwache mit quälendem Durst. Die Sonne brennt auf mich herab. Als ich zu mir komme, stürzen die Erinnerungen an den gestrigen Tag auf mich ein.
Wie lange habe ich geschlafen? Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, fünf oder sechs Stunden. Länger als ich wollte. Langsam komme ich auf die Beine. Mein ganzer Körper schmerzt, vor allem die rechte Seite, auf die ich gestern gefallen bin. Am liebsten würde ich sofort wieder in den Hohlraum zurückkriechen und dort warten … nur wie lange? Bis Nassim mich hier rausholt? Aber das wird nicht passieren. Der Einzige, der mich retten kann, bin ich selbst.
Ich atme tief durch und setze mich in Bewegung, den Bergen entgegen. Sie sehen heute nicht mehr so weit entfernt aus wie gestern, aber wahrscheinlich ist das nur eine Sinnestäuschung. Wo bin ich hier nur? Und in welchem Jahr?
Das Wo ist vermutlich einfacher als das Wann. Onkel mag seine Fehler haben, doch seine geografischen Kenntnisse sind unglaublich. Ich erinnere mich, dass er uns von den drei größten Wüsten dieser Erde erzählt hat: der Sahara in Afrika, der Arabischen Wüste in Ägypten und der Wüste Gobi in der Mongolei. Ich könnte mich in einer von ihnen befinden, aber natürlich auch in einer kleineren Wüste, von denen es jede Menge gibt. Doch im Grunde bezweifle ich Letzteres, denn Onkel liebt es, »g roß« zu denken. Ich tippe vielmehr auf die Wüste Gobi, weil die Mongolei unmittelbar an China grenzt.
Kommen wir zu der schwierigeren Fragen: dem Wann. Ich habe keine Spuren von Menschen gesehen. Abgesehen von der kleinen Steinpyramide, die irgendjemand gebaut haben muss, aber das könnte eigentlich in jedem x-beliebigen Jahrhundert geschehen sein. Meine Intuition sagt mir, dass ich mich weit in der Vergangenheit befinde, vielleicht im neunten oder zehnten Jahrhundert. Aber das ist nur eine Vermutung. Ebenso gut könnte es das vierzehnte oder fünfzehnte Jahrhundert sein. Oder warum nicht das neunzehnte? Ein paar Hundert Jahre früher oder später bedeuten für einen Ort wie diesen rein gar nichts.
Ich habe das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein. Meine Füße schmerzen, aber ich traue mich nicht, eine Pause einzulegen. Denn falls ich das täte, weiß ich nicht, ob ich genug Energie zum Weiterlaufen aufbringen würde.
Die Sonne brennt unerbittlich auf mich herab und zehrt an meinen Kräften. Stumpfsinnig trotte ich weiter, nur darauf bedacht, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Über mir nehme ich eine Bewegung wahr. Zwei große Vögel kreisen am Himmel. Falken? Nein, Falken sind kleiner. Ich gehe weiter und die Vögel folgen mir. Allmählich kann ich sie besser erkennen: Es sind große hässliche Viecher mit grau-braun gefleckten Flügeln und krummen schwarzen Schnäbeln – Geier.
Ein Schwall
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