Die Time Catcher
aleb, bist du hier?«, fragt die Stimme.
Endlich wird mir klar, warum ich niemanden sehe. Weil die Stimme in meinem Kopf ist. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, Abbie hat per Gedankenübertragung zu mir Kontakt aufgenommen. Aber sie ist tausend Jahre und tausend Meilen entfernt. Es muss eine rationale Erklärung geben. Ich hab’s. Ich muss übergeschnappt sein. Das ist es. Der klassische Fall einer multiplen Persönlichkeitsstörung. Jetzt habe ich endlich jemanden, mit dem ich reden kann – ein anderes Ich. Also versuche ich es mit einer Antwort.
»J a, ich bin hier«, sage ich, »u nd ruhe mich ein bisschen aus.«
Die Stimme wird noch lauter. »B eweg dich nicht vom Fleck. Ich komme, dich zu holen. Red einfach weiter.«
Mit psychischen Krankheiten kenne ich mich nicht so aus, aber ich habe mal einen Spielfilm gesehen, in dem sich ein Lehrer in sieben verschiedene Persönlichkeiten aufgespalten hatte. Mein Gott, waren die verschieden! Bei mir ist es offenbar genau dasselbe. Und diese Persönlichkeit ist weiblich und ziemlich herrschsüchtig. Mal sehen. Ich nenne sie Agnes.
Ich weiß zwar nicht, worüber ich mit ihr reden soll, aber man will ja auch nicht unhöflich sein, also versuche ich’s mit irgendeiner Redewendung: »L ass mich nicht im Regen stehen, Agnes.«
»S prich weiter«, sagt Agnes’ Stimme. »W ir kreisen dich ein.«
»W er sind wir, Agnes?«, frage ich. Mit ein wenig Glück stellt sie mir meine anderen Ichs vor.
Da sie nicht antwortet, brabbele ich weiter: »E in misslungener Catch ist wie ein halbes Niesen.«
»D as Signal wird schwächer. Bist du auf dem Berg?« Agnes’ Stimme wird wieder leiser.
»J a«, sage ich und gehe zum Schein auf sie ein. »A uf dem Berg, der aussieht wie ein kauernder Löwe.«
Nach einer Weile entgegnet sie: »J etzt sehe ich ihn. Rühr dich nicht von der Stelle. Ich komme zu dir.«
»V ergiss die anderen nicht«, mahne ich sie. »D ie möchte ich auch gern kennenlernen.«
»D as wirst du schon. Red einfach weiter.«
»O kay, warte mal … Ein gelungener Catch ist wie ein Kunstwerk. Verweilt nicht in der Vergangenheit. Plündert sie.«
Und so weiter und so fort. Ich bin selbst überrascht, an wie viele von Onkels Sprüchen ich mich erinnern kann. Aber die Sache wird allmählich langweilig.
Ich bin schon fast eingenickt, als ich unter mir ein schlurfendes Geräusch höre. Vielleicht eine dieser Bergziegen mit den geschwungenen Hörnern. Wenn ich eine von ihnen fangen könnte, hätte ich die ganze Woche etwas zu essen.
Ich strecke meinen Kopf aus der Höhle, ziehe ihn jedoch sofort wieder zurück. Es war zwar nur ein rascher Blick, doch bin ich ganz sicher, dort draußen eine Person erkannt zu haben. Und der Machete am Gürtel nach zu urteilen, dürfte sie kein Tourist sein.
In diesem Moment höre ich erneut Agnes’ Stimme in meinem Kopf.
Einen Augenblick noch. Wir sind gleich da!
»S ei vorsichtig, Agnes«, warne ich. »D a ist jemand vor meiner Höhle und der sieht nicht gerade sehr freundlich aus.«
Ich strecke erneut meinen Kopf heraus und befinde mich plötzlich Nase an Nase mit dem feindlichen Krieger. Er ist klein gewachsen, doch sein stolzes wettergegerbtes Gesicht lässt darauf schließen, dass er eine hohe Meinung von sich selbst hat. Trotz der Hitze trägt er einen derb aussehenden Schafpelzmantel mit Ledergürtel sowie auf dem Rücken einen Köcher, in dem sich mehrere Pfeile befinden. Die obere Hälfte seines Mantels ist von einem engmaschigen Netz aus Eisenringen bedeckt, und auf dem Kopf trägt er einen kegelförmigen Helm. Er sieht aus, als wäre er einem Spielfilm über Dschingis Khan entsprungen.
»S ain Baina uu!«, sagt der Krieger grimmig.
Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll, doch sehr nett hört es sich nicht an. Meine automatische Übersetzung funktioniert leider nicht, was seltsam ist, weil ich mit der Nachtsicht keine Probleme habe. Wenn Onkel den Übersetzungschip entfernt hat, warum hat er mir dann nicht auch das Okular weggenommen?
Doch Übersetzung hin oder her, dieser Dschingis hier scheint für Smalltalk nicht viel übrig zu haben. Der scheint eher darauf zu stehen, seinem Gegner eins überzubraten.
»K eine Angst, er ist auf unserer Seite«, sagt eine Stimme hinter ihm.
»B ist du das, Agnes? Ich meine, bist du etwa mit dem Kerl unterwegs?«
Agnes lacht. Doch irgendwas ist seltsam an diesem Lachen. Zum einen, weil es nicht in meinem Kopf ist, sondern von der Person kommt, die hinter
Weitere Kostenlose Bücher