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Die Titanic und Herr Berg

Die Titanic und Herr Berg

Titel: Die Titanic und Herr Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Fuchs
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Oder hält er meine Hand, um sie festzuhalten, damit ich nicht mit den Fingern über ihn streifen kann und ausgedehnte Wanderungen in seinem wogenden Brusthaarfeld mache? Das sind meine Wege. Das ist meine Landschaft. Da ist gar kein Wasser.
    «Ja, aber die Titanic ist unsinkbar, wurde gesagt», sage ich. Ich will küssen.
    «Aber sie ist ge-sun-ken.» Er sagt die Silben einzeln. Er versteht es nicht, nein. Die Titanic ist eine Legende. Kein Mensch würde mehr von der Titanic reden, wenn sie nicht gesunken wäre. Legenden sind schön, groß.
    «Aber sie war aus Titan. Das ist stabil», sage ich.
    «Sie war nicht aus Titan. Das ist viel zu teuer. Sie hieß so nach den Titanen. Und darum geht es gar nicht. Sie war stabil, aber schwer, und darum ist sie ge-sun-ken.» Er lässt meine Hand frei, und die rennt in seine Achselhöhle, ballt sich da und dreht sich ein Nest.
    «Schiffe sind immer schwer und sinken deshalb nicht immer gleich. Sie ist gesunken, weil sie auf den Eisberg getroffen ist und ausweichen wollte», sage ich. Die Titanic hat nämlich den Eisberg nicht getroffen, sondern geschrammt. Ich habe Peter frontal getroffen, frontaler geht nicht. Ich wollte auf ihn zurasen, ich habe das Tempo nicht gedrosselt, die Alarmglocken nicht geläutet, keine Katastrophe ausgerufen und habe nicht wie wild am Rad gedreht, um umzulenken. Keine Panik, denn ich wollte ihn treffen.
    «Und?», fragt er.
    «Bei der Titanic sind nur alle Kammern voll Wasser gelaufen, weil sie aus-ge-wi-chen ist. Die ganze Seite wurde auf-ge-ris-sen.» Ich kucke ihn an. Ich habe genau wie er jede Silbe einzeln betont. Darüber muss ich lachen.
    «Aha!», sagt er und steht auf, um seine Zigaretten vom Tisch zu holen. Sein Knie knackt und sein Hintern spannt sich an, als er mit dem Rücken zu mir dasteht und das Feuerzeug anmacht. Ein Eisberg sollte nicht mit einem Feuerzeug rummachen, aber das sage ich ihm jetzt nicht.
    Er legt sich wieder ins Bett, den Aschenbecher stellt er sich auf den Bauch. Ich male Peter eine Skizze der Titanic auf die Rückseite eines Kassenzettels. Ich male den Riss an der Seite und die Kammern, bei denen die Wände nicht hoch genug gebaut worden waren. Er schaut kurz auf das Bild. Das ist nämlich ein Bild, was zum Ankucken, und wenn ich es schief halte, ist es schief und wenn ich den Kopf schief halte, ist es wieder gerade. Ich male noch einen lächelnden Eisberg und Wasser.
    «Wenn die Titanic frontal auf den Eisberg geknallt wäre, wären nur die ersten Kammern voll gelaufen, bis hier.» Ich zeige mit dem Stift drauf. «Und dann wäre sie nicht gesunken. Da!» Er kuckt mich an wie eine Statue. «Mir kann gar nichts passieren, weil ich nicht aus-wei-che. Ein bisschen Wasser, mehr nicht.» Ich lecke die Skizze an und klebe sie mir an die Stirn, sage: «So schauts!» Das sagt er manchmal.
    Er kuckt mich weiter an wie eine Statue, ruhig, lange, alt. Ich finde ihn schön, alles, ruhig, lange, alt. Ich werde ihn immer lieben, bis er stirbt. Dann werde ich ihn waschen und die Kinder anrufen. Die Älteste zuerst. Linda heißt sie. «Linda, dein Vater ist heute Morgen gestorben.» Sie wird sagen: «Und wie geht es dir?»
    «Gut!», werde ich sagen. «Ich hatte ein wundervolles Leben mit deinem Vater. Ich bin dankbar.»
    Ich lächle Peter an, das Bild fällt von meiner Stirn in meinen Schoß, verkehrt herum.
    Peter drückt seine Zigarette aus, bläst dabei den letzten Rest Rauch aus der Nase mit strengem Gesicht, und sagt dann: «Ich weiß nicht, ob du dir was vormachst oder ob du mir was vormachst. Ich bin müde.» Er dreht sich zur Wand und schläft schnell ein, weg. Ich mache gar nichts, nichts vor, nichts nach. Ich fotografiere seinen Mantel in meinem Flur.

elf
    Und weil das Leben infantile Spielchen spielt, so Enemehnemuh, und weg bist du, stirbt meine Tante Frieda, die jüngere Schwester meines Vaters, und mein Vater lebt weiter. Nun ja, wir sind ja nicht bei «Wünsch dir was». Ich fasse es nicht. Ich fasse mir an den Kopf und strangulier mir dann eine Krawatte um den Hals, zum Erhängen ist die zu billig, da reißt die Seide. Heute geht es zur Testamentsverkündung. Letztes Wochenende war die Beerdigung. Ich habe eine Urne voll geraucht und es hat nicht geholfen. Dabei hilft doch Rauchen sonst gegen alles, gegen das Leben und gegen leere Hände. Ich hatte gar keine leeren Hände auf der Beerdigung. Ich hielt Lindas Hand, schmal und kalt wie ein Eis am Stiel. Sie hat so dünne Arme. Sebastian ist nicht mit zur Beerdigung

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