Die Titanic und Herr Berg
findet das spannend, Sebastian nicht. Er schaltete das Radio wieder lauter. Ich finde, dass das der richtige Moment ist, Sebastian zu sagen, dass er toll aussieht im Anzug. Die Damen kichern.
«Kommt Gisela auch?», fragt Sylvia. Okay, ich bin doch nicht froh, dass sie mitkommt. Sie weiß doch genau, dass Gisela ein Thema wie Kinder im KZ ist. Darüber will niemand reden.
«War sie bei der Beerdigung?», fragt Sebastian.
«Ja!», sagt Linda.
Anscheinend wollen doch alle über Gisela reden. Ich nicht. Und ich wollte auch nicht daran denken, aber jetzt ist es zu spät. Ihr schiefes Gesicht taucht vor mir auf. Bei der Beerdigung hat sie Ohrenschmalz gegessen. Ohrenschmalz! Das ist so bitter!
«Und was hat sie so gemacht?», will Sebastian wissen.
«Wie gemacht?», frage ich. «Meinst du, ob sie richtig unterhaltsam war, irgendwie entartet und nackt?»
«Peter!»
«Sylvia!»
Darüber muss sie schon wieder lachen. Ich muss nicht lachen.
Sebastian wills wissen: «Ja, das habe ich gemeint. Was hat sie gemacht?»
«Sie hat Ohrenschmalz gegessen», sage ich und starre auf die Landstraße, während eine Fliege an der Autoscheibe ein jähes Ende findet, dabei hatte sie noch so viel vor. Sebastian sagt: «Ohrenschmalz, Gott erhalts!»
«Basti!»
Basti und ich lachen.
Ich will wirklich nicht darüber reden. Es waren mal drei Tanten, nu ist eine tot, eine bekloppt und eine hat einen bekloppten Sohn, meinen bekloppten Cousin.
«Kommt Wolfgang?», fragt Sylvia.
Tralala, Puppentheater, seid ihr alle da? Der Wolfgang auch? Ich hatte schon befürchtet, Sylvia habe den prekären Zusammenhang zwischen mir und Wolfgang und Gisela vergessen. Ich habe automatisch an Wolfgang gedacht und Sylvia auch. Die hat ein Elefantengedächtnis. Warum habe ich ihr so viel erzählt?
«Ja, Wolfgang kommt auch und Gisela auch und beide waren auch bei der Beerdigung. Fragt doch Linda. Ich muss fahren.»
Sebastian hebt die Hände hoch und sagt: «Is ja gut!» Als hätte ich einen kleinkindlichen Wutanfall, weil meine Carrerabahn kaputt ist.
«Wann ist das mit Gisela passiert?» Warum wollte ich nochmal, dass der Sohnemann mitkommt? Weil er mein kerliges Schweigen unterstützen sollte? Tut er das? Nein, er nervt wie mehrere Frauen.
«Im Frühling!», sage ich.
«O Mann!» Sebastian dreht sich nach hinten, zur Rückbank, und spricht ganz langsam: «Weiß denn einer von euch, wann sich die Tante Gisela den Kopf verletzt hat? Der Vati muss fahren.» Von Flegeljahren zu sprechen, finde ich fast zu niedlich. Er ist in den Arschlochjahren.
Sylvia überlegt, wie alt ich damals war. «17 oder? Peter?»
Ich weiß gar nicht, warum mich alle ständig in dieses Gespräch mit reinziehen wollen. Ich halte an einer Raststelle und sage, dass ich ’ne Stange in die Ecke stellen muss.
«Peter!»
Ja, ich war siebzehn und Gisela war achtundvierzig und es war Frühling. Es gab Sturm, und Gisela war sicherlich zum Ficken unterwegs und hat einen Ast auf den Kopf bekommen. Meiner Mutter ist nur die Wäsche weggeflogen. Sie war eine anständige Frau. Ich weiß, dass ich das den Kindern erzählt habe, aber es ist ja zu interessant, so wie jede Müllhalde an einer Stelle, wo früher eine feine Liegewiese war. Vielleicht riechen sie auch, dass da noch mehr interessante Storys sind. Lest doch BZ, verdammt! In jeder Familie gibt es ein richtig außergewöhnliches Schicksal. Meins ist das nicht. Und Wolfgangs ist das auch nicht. Der lebt so herum und seine Arbeitslosigkeit ist manchmal von Arbeit unterbrochen und seine Trunkenheit manchmal vom Nüchternsein. Gisela war eine wirklich schöne Frau. In jeder Epoche der Menschheit hätten Knaben bis Greise sie verehrt und angeschmachtet. Sie bewegte sich wie permanent gastfreundlich, wie eine Empfangsdame, als wäre sie ohne Schwanz in sich nicht komplett und wolle ständig besucht werden. Kommse rin, könnse rauskieken. Als ich zwölf war, war ich schon in sie verliebt, und sie zog in die Stadt, weil es da mehr Männer gab. Ich war von ihrem Leben abgeschnitten, sie sagte nicht mehr jedes Wochenende Peterspatz zu mir. Ich musste auf die Familienfeiern warten und bei diesen Feiern tanzte sie in einem Kleid, das alle Männer hassten, Scheiß Kleid, lös dich in Luft auf, Fetzen! Sie tanzte nur mit den unverheirateten Männern, weil sich die verheirateten Männer nicht trauten. Sie warf den Kopf in den Nacken, Blicke herum, ihre Perlenkette im Kreis, die Schuhe hinters Büfett, tanzte sich Laufmaschen, bis die
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