Die Titanic und Herr Berg
lackierten Fußnägel vorne rausleuchteten. Und während ich ihr dabei zusah, erzählte mir Wolfgang die neuesten Geschichten. Ein Neger, zwei Neger, ein Callboy. Ich wusste mit zwölf das Wort nymphoman. Wolfgang bekam anscheinend von seinen Eltern alles erzählt, was mir meine Eltern nie erzählt hätten, obwohl sie es auch wussten, weil Gisela nicht geizig war, wenn es darum ging, ihre Erfahrungen weiterzureichen. Sie fand das alles normal und keiner widersprach ihr, weil alle es ja wissen wollten. Als sie älter wurde, wurde alles an ihr älter, auch das fröhliche Geschlechtsteil, aber es wurde nicht genügsamer, nur enger, und Gisela ließ sich operieren. Wolfgang befeuchtete sich zwischendurch die Lippen, wenn er so was erzählte. Er zerwurschtelte Servietten und sagte: «Und dann, sie zum Arzt, Arzt sagt: Tja. Und dann hat er operiert und dann hat er ihr gesagt, dass sie aber innerhalb von zwei Wochen Sex haben müsste, weil sonst die Narben irgendwie schlecht verheilen und damit das geschmeidig … damit es weich ist.» Wolfgang leckte sich die Lippen und blickte in solchen Momenten gerne zu Gisela, als ob ich nicht wüsste, um wen es geht. «Und dann hat sie gesagt, sie hat gesagt, naja, die Frage ist nicht, wann ich spätestens Sex haben darf, sondern wann ich frühestens Sex haben darf. Und der Arzt, so gekuckt, und dann hat er sie in der Praxis genagelt!» Am Ende seiner Geschichten lehnte sich Wolfgang zurück und blickte mich an.
Sebastian kommt in die Raststätte und fragt, wo ich bleibe. Ich rauche.
«Willst du auch eine?»
«Die warten!»
Also drücke ich meine Zigarette aus und steige wieder ins Auto, um zur Testamentsverkündung zu fahren, wo Gisela wie ein Behindi dasitzen wird, vor und zurück wippend und sich alles in den Mund steckend, was sie in die Finger bekommt. Manchmal fuhrwerkt sie endlos zwischen ihren Beinen herum. Keiner wollte ihr nach der Beerdigung beim Essen gegenüber sitzen. Sie ist so lüstern wie früher, und kein Zivi ist dafür zuständig, meine Tante ordentlich zu betreuen und ihr Erleichterung zu verschaffen. Gebt ihr Bananen, Gurken, Rettich, aber keine Messer. Sie frisst Lippenstifte und wird von den Kindern fern gehalten. Der Tante gehts nicht so gut.
«Hast du geraucht?», fragt Sylvia.
«Ja!», antwortet Sebastian für mich.
«Was? Du hast geraucht?», fragt Sylvia ihren Sohn.
«Nein, Papa!»
Dann fahren wir schweigend und keiner fragt mehr irgendwas. Ich denke an die Beerdigung letzte Woche. Als ich auf der Toilette war, habe ich Wolfgang getroffen, der mir erzählt hat, dass Gisela im Heim Pornos ansehen darf, weil sie dann ruhig ist. Der Ton wird schön laut gestellt und dann die Tür zu. Wolfgang schaute mich genauso an wie früher. Na, da biste platt! Ich habe früher gedacht, dass er auch verliebt in Gisela ist. Wir haben immer zusammen gewichst auf Familienfeiern. Die jüngeren Kinder haben sich Gruselgeschichten erzählt und sich dann gegruselt und Wolfgang hat mir Sexgeschichten erzählt und dann hatten wir Sex. Wir haben Bier rausgeschmuggelt und dann standen wir um die Kloschüssel. Wir haben uns dabei nie angesehen, nur auf unsere zwei Schwengel gestarrt. Nein, daran will ich nicht denken, also frage ich Linda, ob sie in der Schule immer noch neben der Freundin sitzt, neben der sie sitzt.
«Anja», sagt Sylvia.
Ich erfahre, dass Anja doof ist.
Irgendwann sind wir da, und Sebastian wacht auf und streckt sich, als wäre er gefahren.
«Bist fein gefahren!», lobt mich Sylvia. Ich sage nichts. Vor dem Auto zupfen wir uns die Kleidung zurecht. Lasst uns erben gehen. Ihr müsst Tante Gisela nicht umarmen. Ich weiß, sie riecht komisch.
Er bleibt dabei, er liebt mich nicht. Ich bleibe dabei, ich liebe ihn. Es bleibt dabei, er ist meiner, gehört zu mir. Da ich Recht habe, hat er nicht Recht. Was will er hier? Mich lieben. Wieso stehen seine Schuhe in meinem Flur? Aus Liebe. Warum hängt seine Jacke über meiner? Nicht nur, weil ich nur einen Haken habe. Warum liegt sein T-Shirt auf meinem Boden, sein Schlüpfer neben dem Bett, er neben mir und schläft? Es geht nicht um meinen Körper. Ich habe hier und da ein paar Leberflecken, sonst könnte ich meinen Körper selber nicht von anderen Mädchenkörpern unterscheiden, auf Fotos, bei einer Fahndung, sollte ich meinen Körper verlieren. Bis jetzt ist es nur das Herz. Es gibt Unmengen von Körpern, die Hälfte davon weiblich, und die Herzen schlagen nicht: und Peter und Peter und Peter und Peter. Er
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