Die Tochter der Dirne
sich in die Brust und reichte ihr einen zerbeulten Zinnkelch. „Die großen Gelehrten des Gesetzes leben und arbeiten hier.“
„Ihr meint, die Richter?“
„Oh nein. Die Professoren.“
„Ach ja. Natürlich“, sagte sie und nickte, als wüsste sie, wovon er redete. Was konnte ein Professor der Rechte mit einem Schriftstück zu tun haben? Sie hätte ihrer Mutter bei deren komplizierten Geschichten über ihre Rechtsangelegenheiten besser zuhören sollen. Ihre Mutter besaß einiges Geschick darin, herauszufinden, wie sich das Gesetz anwenden ließ. Und beugen. „Dann müsst Ihr selbst auch einiges über die Gesetze wissen.“
Er lächelte. „Ich bin kein Gelehrter, aber ich habe vieles gelernt. Ich bin schon seit König Edwards Zeiten hier.“
Die Vorstellung von Justin als jungem Mann war verlockend. „Kanntet Ihr Lord Lamont als Studenten?“
„Oh ja. Schon damals besaß er besonderes Talent. Er wurde schneller Sergeant-at-law als sonst jemand.“
Ein Anflug von Stolz zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht. „Wen besucht er heute?“
„Wenn er ein besonders schwieriges Thema behandeln muss, berät er sich noch immer mit den wichtigsten Lehrern.“
„Er erwähnte, an einer Vorladung zu arbeiten“, sagte sie und sah den Mann dann lächelnd und mit großen Augen an. „Vermutlich wisst Ihr, was das bedeutet. Ich fühle mich so dumm, aber als seine Gemahlin werde ich solche Dinge verstehen müssen.“
Würde er darauf eingehen und sein Wissen mit ihr teilen?
„Eine Vorladung befiehlt einem Mann unter Androhung von Strafe, vor Gericht zu erscheinen und als Zeuge auszusagen.“
„Ah, wie interessant.“ Sie nickte und trank einen Schluck Ale. Dann legte sie den Kopf schief und lächelte wieder. Wen würde Justin zur Aussage zwingen wollen? Und über was? Wenn ein Mann gezwungen wurde, vor Gericht alles auszusagen, was er wusste, konnte er sich und viele andere schuldig sprechen, ehe die Befragung zu Ende war.
Justin kam die Treppe hinunter, jetzt ohne das Dokument, nahm Brot und Käse, die William ebenfalls aus der Halle mitgebracht hatte, und geleitete sie nach draußen. Sie setzten sich auf eine sonnenbeschienene Bank und aßen.
„Ihr habt das Dokument vergessen“, sagte sie, als hätte sie es gerade erst bemerkt.
„Nein. Ich habe es bei meinem alten Professor gelassen.“
„Ich dachte, Eure Ausbildung wäre beendet. Braucht Ihr noch immer die Billigung Eures Professors?“
„Nur weil ein Mann einen Rat sucht, bedeutet das nicht, dass er Billigung braucht.“
Was sollte sie jetzt dem König berichten? Er hat ein Dokument, das Vorladung genannt wird, zu einem alten Mann gebracht und es dort gelassen? „Welche Art von Rat gibt er Euch?“
„Euer Interesse an Gesetzen ist neu.“
„Natürlich interessiert mich das. Es ist Euer Leben.“ Wenn sie nicht aufpasste, würde er das Motiv für ihre Neugier erraten. Obwohl sie Angst hatte, seine bloße Haut zu berühren, tastete sie nach dem goldenen Ring an seiner linken Hand. „Mich interessiert auch der Ring, den Ihr tragt.“
Er zog seine Hand zurück und drehte an dem Ring, ohne ihn anzusehen. „Mein Vater gab ihn mir, als ich zum Rechtsanwalt ernannt wurde.“
Sein Vater. Der Richter. „Was steht darauf?“
„ Omnia vincit veritas. Die Wahrheit siegt über alles“, übersetzte er.
Das durfte sie nicht vergessen. All die Unwahrheiten, die einfache Menschen zum Überleben brauchten, prallten ab an diesem Prüfstein.
Kein Ehegelübde würde ihn mehr binden als dies hier.
„Nun, das Gesetz scheint eine langweilige, schleppende Angelegenheit zu sein“, sagte sie. „Ich ahnte nicht, dass es so kompliziert ist.“
„Manchmal“, sagte er, „ist das Gesetz komplizierter als die Gerechtigkeit.“ Seine strenge Miene wurde weicher. „Heute Morgen wart ihr sehr geduldig. Ihr spracht von Eurem alten Haus. Würdet Ihr es gern wiedersehen?“
Eine Woge von Glück durchflutete sie, und sie drückte seinen Arm. „Das Haus am Fluss? Oh ja!“
Das Gesetz und der König konnten warten.
Das Haus wiederzufinden war nicht leicht. Fast vergessene Erinnerungen leiteten sie, als tastete sie sich durch ein dunkles Zimmer. Doch allmählich schien ihr die Umgebung vertrauter zu werden. Ein Haus mit einem Drachenkopf über dem Fenster. Der Geruch des Flusses, und dann, an der Ecke, sah sie es. Das schmale weiße Steinhaus, genauso zauberhaft, wie sie es in Erinnerung hatte.
Wann hatte ihre Mutter dieses Zuhause verloren? Von all ihren
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