Die Tochter der Dirne
Besitztümern waren dieses und das in Upminster die einzigen, an denen ihr etwas lag.
Hier hatte ihre Mutter manchmal sogar mit ihnen gespielt.
„Wir hatten ein Boot“, sagte sie, während sie wie magisch angezogen auf das Haus zuschritt. „Der Diener nahm uns zu Ausfahrten auf dem Fluss mit.“
Sie betrachtete den Türklopfer, den vertrauten Löwenkopf, eine Erinnerung an das Wappen des Königs. Wenn sie die Tür öffnete, würde sie dann zurückkehren können zu jenen Tagen, da sie barfuß an der Mole gespielt hatte?
Sie hob eine Hand, um zu klopfen.
„Solay!“, rief er. „Seid Ihr sicher?“
Sie klopfte, fragte ihn dieses eine Mal nicht um Erlaubnis.
Eine rundliche Frau öffnete die Tür. Hinter ihren Röcken versteckte sich ein kleiner Junge, der von Solay zu Justin blickte. „Was wollt Ihr? Wenn Ihr die Lincolns sucht, die sind umgezogen.“
„Nein, wir – ich meine, ich habe als Kind hier gewohnt. Ich hatte gehofft, noch einmal einen Blick hineinwerfen zu können.“
„Seid Ihr eines der Lincoln-Mädchen?“ Misstrauisch kniff die Frau die Augen zusammen. Noch immer versperrte sie die Tür und ließ den Blick von Solay zu Justin gleiten.
„Ich bin Lady Joan Weston.“
Die Frau runzelte die Stirn. „Eine Tochter der Dirne?“
„Was habt Ihr gesagt?“ Justin trat auf die Tür zu.
Solay schluckte den Ärger hinunter, hielt ihn zurück und nickte.
Misstrauisch sah die Frau Justin an. „Wollt Ihr mir drohen?“
„Nein, aber …“
Die Tür schlug zu.
Solay kämpfte mit den Tränen, und die Holztür verschwamm vor ihren Augen. In der wirklichen Welt gab es keinen Platz für glückliche Erinnerungen. Sie blinzelte und drehte sich erst um, als sie den Türklopfer mit dem Löwenkopf wieder deutlich erkennen konnte.
Justin legte eine Hand auf ihre Schulter und griff nach dem schweren Eisenring. „Ich werde dafür sorgen, dass sie Euch hineinlässt.“
„Nein, bitte.“ Sie schüttelte seine Hand ab und sah an dem Haus vorbei noch einmal zum Fluss. Sie hätte nicht zugeben sollen, wie sehr sie dieses Haus liebte. Ehrlichkeit machte Enttäuschungen nur noch offensichtlicher.
Sie vergrub ihre Traurigkeit tiefer in der Brust. „Verglichen mit Windsor ist es kein besonderes Haus, oder?“ Sie bemühte sich um ein fröhliches Lächeln. „Sollen wir gehen?“
Justins Herzschlag stockte, als ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde. Wie sie so den Kopf mit dem schlanken Hals nach vorn neigte, erspähte er einen Blick auf das zehnjährige Mädchen, das man aus seinem Zuhause gejagt hatte.
Wenn ihr Leben so verlaufen war, dann schien es ihm wie ein Wunder, dass sie nicht vor zehn Jahren schon trübsinnig geworden war.
Er fand keine tröstenden Worte. Auf der Suche nach ein paar Kindheitserinnerungen hatte man sie nach den Sünden der Mutter beurteilt. Kein Wunder, dass sie sich so sehr bemühte, zu gefallen. Ihre bloße Existenz stellte schon eine Beleidigung dar.
Doch sie straffte die Schultern und setzte ein tapferes Lächeln auf. Während sie zum Hafen hinuntergingen, plauderte sie leicht dahin, als wäre nichts geschehen, und stellte ihm wieder Fragen über die Feinheiten des Gesetzes. Und er antwortete in der Hoffnung, sie damit zu zerstreuen.
Als sie wieder im Boot waren, hielt er weiterhin eine Hand an ihrem Arm und fürchtete, die peinliche Situation hätte sie wieder traurig gemacht. Wenn er einen Blick hinter ihre Maske erhaschte, sah er sich einem wirklichen Menschen gegenüber, und wieder fiel ihm der Schmerz auf, den er bereits am ersten Tag an ihr bemerkt hatte.
Das machte ihm Angst.
Als er sich das letzte Mal so um eine Frau gesorgt hatte, hatte er sie getötet.
12. KAPITEL
Gestützt auf die Hand des Fährmanns stieg Solay in das schaukelnde Boot und begrub ihren Schmerz tief in ihrem Innern. Sie weigerte sich, zu trauern. Außerdem brachte ihr der Vorfall einen unbeabsichtigten Nutzen. Als sie ablegten, hatte Justin seinen Arm wieder um ihre Taille gelegt, sanfter diesmal als bei der morgendlichen Fahrt, und er beantwortete alle ihre Fragen über das Gesetz.
Als Westminster in Sichtweite kam, wusste sie, dass mit einer Vorladung die Aussage eines Mannes erzwungen werden konnte und dass die Buße für Nichterscheinen einhundert Pfund betrug, eine Summe, bei der selbst der König gründlich überlegen musste.
Doch noch immer wusste sie nicht, wessen Name auf dem Schriftstück stand.
Es war besser, wenn sie sich belangloseren Dingen zuwandte, sodass er nicht auf
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