Die Tochter Der Goldzeit
aufeinanderprallender Klingen.
Kapitel 5
So vieles geschieht in jenen Tagen.
So vieles geschieht, bevor große weiße Vögel über der Lichtung im Torwald von Altbergen aufgetaucht sind, so vieles, nachdem sie einen Habicht geschlagen haben.
So vieles, und scheinbar ohne Sinn.
Doch nichts, was geschieht, entgeht denen jenseits der Schwelle zwischen dieser Welt und der Anderen Welt.
Sie sehen und wissen.
Sie sehen Katanja unter einer Eibe im Wald von Altbergen kauern und ihr Lamm an sich drücken. Sie lauschen mit ihr dem Geschrei und dem Kampflärm außerhalb des alten Gemäuers, in dem sich vor vielen Sonnenkreisen eine Zeitfuge geöffnet hat.
Sie sehen Bosco, wie er weit südlich des Eisgebirges auf einer Insel vor der Westküste Apenyas schlaflos liegt und sein verängstigtes Mädchen festhält. Sie kennen seine Gedanken, als er begreift, dass die Tage seiner Heimat, der unterirdischen Stadt Tikanum, gezählt sind, wenn keiner sie warnt.
Und diejenigen, die sie suchen, die Erdstadt, auch die kennen sie: den schwarzen Eisenriesen, den Zwerg und seinen grauen Ritter. Die Fremden sind ihnen nicht fremd. Sie kennen ihre Kriegsgedanken, ihre Gier nach der Macht; sie wissen um den Goldzeitschatz fern in der Lichterburg, sie kennen auch den, der ihn bewacht.
Oder Torya, die junge Prinzessin von Albridan: Mehr als drei Monde Fußreise weit im Westen, in der Hauptstadt der großen Insel, sitzt sie im Königspalast am Lager ihres todkranken Vaters. Sie sehen sie. Sie hören sie mit dem Hofmagier flüstern. Der König atmet noch, doch der Magier und die Prinzessin planen bereits den Tod des Kronprinzen.
Und noch einmal zwanzig Tagesmärsche weiter nordwestlich sehen sie einen kleinen Jungen im nächtlichen Wald kauern. Hinter den schützenden Palisaden seines Dorfes, kaum einen Steinwurf weit entfernt, erlöschen die letzten Fackeln. Sie kennen seinen Namen, und sie haben gehört, was sein Vater, dieser herzlose Narr, ihm befohlen hat: »Diese Nacht verbringst du allein im Wald, damit du lernst, deine Angst und dein Heimweh zu zügeln; damit ein Mann aus dir wird!«
All das und viel mehr noch geschieht in den Tagen und Monden, bevor oder nachdem Tondobars Tochter ihrem Lamm und ihrem Hütedogger nachgelaufen und vor der Eibe im alten Gemäuer - auf der Schwelle in die Andere Welt - jener rätselhaften Frau begegnet ist; vielleicht geschieht es sogar zur gleichen Zeit.
Zufällige Ereignisse ohne Sinn und Zusammenhang? Diesseits der Schwelle zur Anderen Welt mag es so scheinen. Jenseits der Schwelle jedoch erkennen sie schon die ersten farbigen Muster eines sorgfältig gewebten Teppichs.
Sie, die Anderen.
Sie, für die es kein Gestern und Morgen gibt, sondern immer nur ein Jetzt. Ein kleiner Schritt ist es für sie von der Anderen Welt in diese Welt, überall dort, wo ihre Welt in diese hineinragt; überall dort, wo eine Zeitfuge klafft.
Auch der verstörte Junge im Wald von Eyrun ist ein bunter Faden in diesem Muster, das sie jenseits der Schwelle nach und nach entstehen sehen; sogar die hungrigen Wildkatzen, die durch den nächtlichen Wald zum Dorf schleichen und bald seine Witterung aufnehmen werden .
Kapitel 6
In der ersten Morgendämmerung erreichte das Jagdrudel den Wasserfall im Felshang über der Waldsiedlung der Nackthäuter. Von hier aus konnte man ihre Dächer, Gärten und Weiden zur Hälfte überblicken. Ein Wall aus ungeschälten Baumstämmen umgab sie. Das Tor war verriegelt, nirgendwo stieg Rauch auf, nirgendwo Schreivögel oder Wächter. Eine Brise wehte Gerüche von Nackthäutern, Schreivögeln und großem und kleinem Gehörn herauf; und den bitter-sauren Gestank von Langschnauzen. Die Erste hob den Schädel, spitzte die buschigen Ohren und spähte hinunter ins Halbdunkle.
Hellgrau und schwarz gestreift war ihr kurzes Fell. Ihre Mandelaugen leuchteten wie Bernstein, ihre Schnurrhaare vibrierten. Nicht mehr lange, und sie würde einen neuen Namen erhalten.
Sorgfältig prüfte sie Gerüche, Geräusche und Bewegungen im dunstigen Gehölz vor der Palisade und zwischen den Hüttendächern. Sie hörte Schritte eines schweren Nackthäuters in einem Stall, sie sah kleines Gehörn am Rande einer Weide im Gestrüpp zupfen und Junggehörn an seinen Zitzen gieren. Sie sah großes Gehörn wie Erdhaufen im Gras liegen. Sie witterte frischen Harn vor den Hütten und milchigen Schweiß junger Nackthäuter. Bis auf die Schritte im Stall und das Gemecker des Gehörns am Weidenzaun war alles ruhig dort
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