Die Tochter Der Goldzeit
der Wasserwüste zu sehen. Bosco trieb auf dem offenen Meer und wusste nicht, wie er dorthin gelangt war.
Bis Sonnenuntergang schwamm er auf dem Rücken; irgendwie schaffte er es, sich über Wasser zu halten. Mit zunehmender Dunkelheit quälten ihn Durst und Erschöpfung. Lagen nicht mörderische Tage hinter ihm? Warum lebte er überhaupt noch? Und das Mädchen? Himmel, das Mädchen .!
Verbrannt haben dich diese Bestien, bei lebendigem Leibe verbrannt...!
Obwohl die See ruhig blieb, überspülten ihn die Wogen immer häufiger. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis Angst, Kälte und Atem sich verflüchtigten. In der Nacht begann er so heftig zu zittern, dass er jede Kontrolle über seinen Körper verlor. Er geriet nicht in Panik, mit dem Leben hatte er ja schon vor dem Sprung aus der Grotte abgeschlossen. Irgendwann stellte er jede Schwimmbewegung ein; er hoffte, es würde schnell gehen.
Ginolu, rief die Stimme seiner Mutter ihn im Traum. So hatte sie ihn oft in zärtlichen Augenblicken genannt. Er sah ein Paar großer weißer Vögel über sich kreisen - eine Vogelart, die es nicht gab -und einen meterlangen Raubfisch, der immer engere Kreise um ihn zog. Hinter dessen Rückenflosse saß ein greisenhafter Gnom. Im Traum sang Bosco, und im Traum gefiel sein Gesang dem Fisch, dem Zwerg und dem Vogelpaar. Als er am Morgen in die aufgehende Sonne blinzelte, sah er nicht die Spur eines Vogels. Die Rückenflosse eines Raubfisches allerdings umkreiste ihn noch immer; der grauschuppige Räuber war erheblich größer als in seinem Traum, und natürlich hockte kein Gnom auf seinem Rücken.
Bosco klammerte sich an einem langen Rundholz fest. Ein abgebrochener Segelmast, er hatte keine Ahnung, wie er an den gekom-men war. Darüber zerbrach er sich auch nicht den Kopf - der verdammte Fisch fesselte seine ganze Aufmerksamkeit. Merkwürdig, wie so ein gefräßiges Biest einem von einem Moment zum anderen die Lebensgeister wecken konnte. Bosco sang sämtliche Lieder, die ihm seine Meisterin beigebracht hatte. Als er damit fertig war, sang er Lieder, die er noch nie zuvor gehört, geschweige denn gesungen hatte.
Dem Fisch schien das zu gefallen, denn er zog in immer gleichem Abstand Runde um Runde um Bosco. Er tauchte nicht ab, er kam aber auch nicht näher.
Als zwei Tage später die Sonne aufging, spürte Bosco seine Glieder nicht mehr. Da sang er auch nicht mehr, denn seine Zunge war ein großer trockener Lappen, der ihm schwer und stachlig im Rachen klebte. Der Fisch war verschwunden. Bosco schien mit dem Mastbaum verwachsen zu sein. Er spürte nichts mehr, nicht einmal den Wusch zu sterben.
Eine Bordwand ragte irgendwann neben ihm auf. »Lasst ihn doch absaufen«, rief eine Männerstimme von oben, und eine andere forderte ihn unter höhnischem Gelächter auf, Grüße in der Hölle auszurichten. Gleichgültig stierte Bosco zur Reling hinauf. Das Schiff, die Stimmen, die Seeleute dort oben - war das noch wichtig?
Die dürre Gestalt eines Grauhaarigen drängte sich an die Reling. »Holt ihn an Bord!«, forderte eine befehlsgewohnte Stimme. Ein Boot wurde zu Wasser gelassen, Männer packten den Verdurstenden und zogen ihn erst über einen Bootsrand, später über eine Reling.
Bosco sah eine Flagge über einem Hauptmast flattern - ein grüner Feigenbaum und ein goldener Sonnenball vor blauem Grund. Das Schiff gehörte zur fürstlichen Flotte Dalusias. Warum nicht?
Sie warfen ihn auf einen Strohsack im Laderaum. Jemand brachte ihm Wasser, Früchte und trockene Kleider. Bosco trank und aß und schlief. Das Fieber sank, die Kälte gab seinen Körper frei.
Gegen Mittag des nächsten Tages wachte er auf. Als er begann, sich selbst wieder zu spüren, überwältigte ihn auch der Schmerz. Bosco weinte tagelang um das Mädchen, weinte, weil er getötet hatte, wollte weiter nichts als sterben.
Am Abend trat ein Mann mit langem Grauhaar zu ihm in den Laderaum, der kleine Dürre, der befohlen hatte, ihn aus dem Meer zu ziehen. Statt einer Hand ragte ein Haken aus seinem rechten Ärmel. »Wer ist Sariza?«, fragte er.
Bosco erstarrte. »Woher kennst du den Namen?« Es war der Name des Mädchens.
»Du hast ihn im Fieber gerufen, viele Stunden lang.«
»Danke für die Hilfe.« Bosco wich aus. »Wer bist du?«
»Maragostes, der Flottenmeister des Fürsten von Dalusia.« Dalusia hieß das kleine Reich im Westen des Südlandes. »Wie heißt du?«
»Ginolu«, sagte Bosco, einer Eingebung folgend. »Ich bin ein Fischer.« Wusste er denn,
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