Die Tochter Der Goldzeit
denn nur wenige Menschen siedelten noch an Küsten und Flussufern, und nur wenige Stämme zogen noch von Mitternacht nach Mittag, auf der Suche nach Nahrung und Bleibe.
»Und jetzt verrate ich dir ein Geheimnis, Alphatar, erster meiner Diener«, sprach der Höchste weiter zu mir. »Manche Unmündige werden beginnen zu begreifen, und ich werde meinen starken und treuen Boten Betavar senden, um sie zu rufen, damit sie kommen und mein Angesicht sehen. Der wird sie mein Gesetz lieben lehren und meine Ordnung und den Gehorsam, den sie mir schulden, und dann wird die Wahre Goldzeit anbrechen ...«
Aus dem Buch Spruch Dashirins an Alphatar, Kapitel 29
Kapitel 1
Der See ist ein blauer Spiegel, die Sonne ein roter Ball an seinem Rand. Kormorane fliegen dicht über dem spiegelnden Blau. Sie verschwinden im Dunst, der im Süden über dem Wasser schwebt. Im Westen ist der Himmel noch fahl-violett. Ein grauer Wolkenschleier verhüllt dort die Stelle, an der See und Himmel ineinander übergehen. Einen Speerwurf weit von der Schiffsansammlung entfernt springt ein großer schwarzer Fisch aus dem blauen Spiegel und klatscht wieder in ihn hinein. Sonst ist der Morgen so still, als sei die Welt gerade erst erschaffen worden.
Eine junge Frau sitzt auf dem Ruderhaus eines der Wracks am Südrand der Schiffsansammlung. Sie hat langes rotes Haar und samtbraune Haut. Ein moosgrünes Gewand bedeckt ihre gekreuzten Beine und ihre Füße. Sie bückt auf den See hinaus.
Ein großes Ruderboot nähert sich den Wracks. Dreizehn Männer zählt sie auf den Ruderbänken und am Steuer. Jetzt entdecken die Kerle die Frau und beginnen zu winken. Fischer sind es nicht, denn deren Siedlungen liegen am Nordufer. Das Schiff aber rudert aus dem Süden heran. Die scharfen Augen der Frau entdecken Werkzeuge an Bord - Sägen, Brecheisen und langstielige Äxte. Vermutlich kommen sie, um ein Wrack auszuschlachten. Sie winkt nicht zurück.
Das Gewirr aus Holzdächern, Masten, Palisaden, Galionsfiguren und Türmchen liegt fast vollkommen ruhig auf dem See. Manchmal nur plätschert es zwischen den uralten Schiffsrümpfen. Fast auf jedem Wrack grünen Bäume und Büsche, Moos bedeckt die Planken, Masten und Balustraden, Löwenzahn blüht zwischen Relingholmen und auf Ruderhausdächern, hier und dort auch Efeu, Ginster, Disteln und Huflattich. In manchen Bäumen zwitschern Singvögel. Sperlinge tschilpen in Takelagen und in den Nischen der Decksaufbauten.
Auf der anderen Seite der Wrackinsel streiten ein paar Kolks mit zwei Möwen um einen auf dem See treibenden toten Fisch. Auf dem Ausguck eines Wracks in der Mitte der Totenschiffe sitzt ein gewaltiger Greif und äugt in alle Richtungen. Sonst ist kein Lebewesen zu sehen auf den alten Schiffen, kein Tier und kein Mensch.
Jetzt löst sich der rote Sonnenball vom Rand des blauen Spiegels und schwimmt unendlich langsam in den Himmel hinein. Die junge Frau auf dem Dach des Ruderhauses beobachtet das Schauspiel. Die pfeifenden, grölenden, winkenden Männer im Ruderboot würdigt sie keines Blickes. Zwei Punkte bewegen sich am oberen Rand des Sonnenballs. Vögel?
»Siehst du sie schon?«, krächzt eine Stimme aus dem Ruderhaus des Wracks.
»Nein«, sagt die Frau auf dem Dach. Sie greift an ihren Hals und hält den Anhänger ihrer Kette ins Morgenlicht, eine kleine Pyramide aus geschliffenem Glas.
»Wird es sich im letzten Augenblick anders überlegt haben.«
»Sie ist aufgebrochen.« Die Frau auf dem Dach hat eine klare, helle Stimme, eine Stimme, die mehr singt, als dass sie spricht. »Verlass dich darauf, Sakrydor.«
»Glaub ich erst, wenn ich ihr Schiff vorbeisegeln sehe«, erwidert die Stimme aus dem Ruderhaus.
Höher und höher schwimmt die Sonne in den Morgenhimmel hinein. Die beiden Punkte lösen sich von ihrem Rand und wachsen allmählich. Tatsächlich: ein Vogelpaar.
Kaum einen Steinwurf trennt das Ruderboot mit den dreizehn Kerlen noch von den äußeren Wracks. Zwei Männer stehen am Bug, rudern mit den Armen, schreien unflätiges Zeug. Die anderen lachen und grölen.
»Was sind das für Kerle?«, krächzt es aus dem Ruderhaus.
»Was sollen das schon für Kerle sein?« Die Morgenbrise spielt mit dem roten Haar der Frau. Die bisher spiegelglatte Wasserfläche kräuselt sich. Mit der Glaspyramide lässt die Frau einen bunten Lichtfleck über das Moos auf den Dachplanken wandern. Sie beobachtet das Licht und lächelt. »Menschenkerle eben.«
»Versenken wir sie«, schlägt der im Ruderhaus
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