Die Tochter Der Goldzeit
dem Mädchen in die Augen. »Ich. Doch wer ist das schon - Ich? Was sind wir denn gegen das Leben? Was ist schon ein Ich gegen das Leben? Nur wenn wir uns hineinwerfen in die Fluten des Lebens, wird seine Größe und Schönheit auch in uns aufleuchten. Nur wenn wir bereit sind, uns zu vergessen und im wilden Dahinströmen des Lebens zu ertrinken, nur dann werden wir wirklich leben. Sind wir nicht dazu bereit, dann sind wir schon tot.«
Augen und Mund weit geöffnet, betrachtete Katanja ihre Meisterin. Sie wusste nichts zu antworten.
»Ich habe geliebt und war eine glückliche Frau, Kindchen«, sagte die Meisterin lächelnd. »Ich bin dem Ruf des Lebens gefolgt, habe die Liebe losgelassen, und ich bin eine glückliche Frau.« Sie hakte sich wieder bei Katanja unter, zog sie an sich und blickte über den Bug hinaus auf den unruhigen See. »Was sie an den Flussufern und in den Wäldern die >Goldzeit< nennen, war eine Epoche, in der die Menschen vor allem eines mit großer Leidenschaft beherrschten und taten: >Ich< sagen.«
Katanja lehnte ihren Kopf gegen den ihrer Meisterin und schwieg.
So standen sie beieinander, stiegen mit dem Schiff nach oben, wenn die Wellen kamen, sanken nach unten, wenn die Wellen gingen. Die Dämmerung setzte ein, der Sturm fegte dunkle Wolken von Osten heran.
Tondobar befahl, das Rudern einzustellen. Die Männer und Frauen auf den Ruderbänken waren entkräftet, und selbst wenn sie es nicht gewesen wären, hätten sie die Schiffe in dieser Nacht nicht mehr zum Ostufer gebracht. Zu stark war der stürmische Gegenwind, zu aufgewühlt der See.
Katanja sah hinter sich. Alle schleppten sich müde aus den Ruderbänken. Nur Janner saß noch an seinem Ruder. Seine Haltung war angespannt, sein blonder Kopf zur Schulter geneigt, gerade so, als bemühte er sich zu verstehen, was die beiden Frauen am Bug zu be-sprechen hatten. Katanja versuchte zu lächeln, Janner sah es trotz der einsetzenden Dunkelheit und nickte.
»Du sagtest, ich müsste nicht allein gehen«, wandte Katanja sich wieder an die Meisterin.
»Zwei werden dich begleiten, mehr nicht.«
»Zwei nur?« Katanja erschrak.
»Eine größere, womöglich schwer bewaffnete Expedition hätte keine Chance«, erklärte die Meisterin. »Die Kundschafter des Eisernen würden sie entdecken. Ein junges Mädchen in Begleitung zweier Männer dagegen und unter unserer üblichen Tarnung als Händler, Schausteller oder Musikanten - das müsste gehen.«
»Wer würde mich begleiten?«
»Die Richtigen. Wir werden sehen.«
»Könnte ...« Katanja beugte sich nahe an das Ohr der Meisterin. »... Könnte Janner mit mir gehen?« Jetzt war es heraus, und sie hätte sich auf die Zunge beißen mögen.
»Du entscheidest ganz allein für dich«, sagte die Meisterin. »Und die wir fragen werden, entscheiden ganz allein für sich.«
Regentropfen klatschten auf die Deckplanken. Der Wind zerriss die Wolken, die Sichel des zunehmenden Mondes schwamm zwischen ihnen in einem milchigen Lichthof. Ein paar Atemzüge lang war der Abendstern zu sehen. Katanja blickte über die Schulter zurück: Janners Ruderbank war leer. Er stand hinten am Heck bei den anderen Mädchen.
Katanja schlang den rechten Arm um die Hüfte der Meisterin und drückte ihren Scheitel gegen deren Hals. Sie holte tief Luft, und es fühlte sich an, als müsste sie gegen hundert Feldsteine in ihrer Brust atmen. »Ihr müsst keinen anderen suchen«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Ich werde gehen.«
II .
D AS B UCH VOM A UFBRUCH
486 - 489 nach der Götternacht
Spruch Dashirins an Alphatar im 147. Winter nach der Götternacht. »Es ist geschehen«, sprach der Höchste. »Und niemand kann es heilen. Erst fraßen sie einander ihre Länder leer, dann tilgten sie einander aus ihren Städten, dann kamen das Feuer und die Flut, dann kam die Götternacht, und dann kam das Eis. Schau hin, Erster meiner Diener, wo ist der Gesang in den Hallen und Hütten geblieben? Wo das Gewimmel an den Ufern der Flüsse und den Küsten der Meere? Haben die Tiefländer sich nicht einst auf den Bergen gedrängt? Wo sind ihr Geschrei und das Donnern ihrer Waffen? Wo sind die Paläste ihrer Könige, wo die Karawanen ihrer Fürsten? Wo sind sie geblieben, die Epochen, welche die Unmündigen Goldzeit nennen? Und wo die große Menge, die das Fett meiner Welt verzehrte und die Honigmilch aus ihrem Mark saugte? Wie viele siehst du noch, sag es mir, mein ältester und treuster Diener!«
Und ich, Alphatar, sah hin und erschrak,
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