Die Tochter Der Goldzeit
Lichterburg!«
»Es stimmt: Wir sind sicher hier unten.« Valena strich über ihren Bauch. »Tikanum bietet der Sozietät seit fast siebenhundert Wintern Schutz, warum sollte sich das auf einmal ändern? Lasst uns also Vorräte sammeln und warten, bis der Eiserne abgezogen ist.«
Alle nickten, nur wenige skeptische Mienen sah Bosco. Er war entsetzt.
»Was sagst du, Bosco?« Kaum konnte die Meisterin noch ihren Zorn zügeln. »Von uns allen hast du die meiste Erfahrung mit dem Eisernen und den Jusarikanern. Kann Tikanum einem Angriff standhalten, falls sie das Tor finden?«
»Nein«, rief Bosco. »Auf die Dauer könnten wir Tikanum nicht halten, nicht gegen die Jusarikaner.« Er hatte erkannt, dass die Meisterin allein stand - ihre warnende Stimme verhallte im Chor der Blauäugigen und allzu Sicheren. Wohl deswegen hatte sie nun seine Ankunft zum Anlass genommen, um den Rat wachzurütteln. »Sie sind kriegserfahren, wir nicht. Sie setzen ihre Ziele ohne Skrupel durch, wir nicht. Ihre Führer sind kampfstark und klug, unsere vielleicht nicht einmal klug .«
Tumult erhob sich. Boscos Vater sprang auf und begann seinen Sohn zu beschimpfen. Andere schüttelten die Fäuste und verlangten Respekt, Besonnenheit und Ähnliches. Der Erste Wächter des Tores forderte Ruhe. Die wollte lange nicht eintreten.
Schließlich erhob sich auch Bosco. »Sie verfügen über ganze Schwärme von Kampfvögeln! Der Eiserne besitzt zwei Mammutcaniden, ich habe es euch doch erzählt! Er hetzt sie nicht nur auf seine Feinde, er benutzt sie auch, um über Dutzende, ja Hunderte Schritte hinweg unerklärliche Kräfte auszuüben, die ausgewachsene Männer von den Beinen holen! Ich habe es am eigenen Leib erfahren!« Keiner tuschelte jetzt noch. Betretene Blicke flogen hin und her. Boscos Vater sank auf sein Sitzkissen. »Sie werden das Tor finden, das schwör ich euch«, fuhr Bosco fort. »Vielleicht schon im nächsten Sommer, vielleicht erst in sieben, was weiß ich!« Er setzte sich wieder. Eine Zeitlang herrschte Totenstille.
»So ist die Lage«, brach Tarsina irgendwann das Schweigen. »Sicher werden wir Proviantvorräte anlegen, und sicher können wir einer Belagerung eine Zeitlang standhalten. Zwei Sommer aus den Gewächshäusern und Pilzhöhlen leben - warum nicht? Doch spätestens im dritten Sommer müssen unsere Jäger und Waldläufer durch die Notfalltore hinaus, um frisches Fleisch, frische Beeren und Früchte und neuen Mutterboden zu besorgen. Und irgendwann wird irgendjemand ihre Spur entdecken.«
Wieder herrschte langes Schweigen. »Und was schlägst du vor, Bosco?«, fragte der Erste Wächter des Tores schließlich. »Was sollen wir nun tun?«
»Kämpfen«, sagte Bosco. »Den Ausnahmezustand ausrufen und kämpfen.«
»Wir sind es nicht gewohnt zu kämpfen«, entgegnete Valena. »Und zu töten widerspricht unserer innersten Überzeugung.«
»Manchmal muss man ihr widersprechen, wenn man leben will«, sagte Bosco heiser. »Wenn ich nicht getötet hätte, säßen wir schon nicht mehr hier.« Alle sahen ihn erschrocken an. »Wer nicht kämpfen kann, der muss es eben lernen. Ein wenig Zeit bleibt uns noch.«
»Ich verbiete derartige Schwarzmalerei in dieser Versammlung!«, brauste Boscos Vater neben ihm auf. »Unverantwortlich, all diese Schreckgespenster an die Wand zu malen! Tikanum wird niemals fallen!« Zustimmung erhob sich wieder, zögernder diesmal.
»Ich beantrage, den Ausnahmezustand zu erklären«, sagte Tarsina. Kühl musterte sie den Ratsältesten. Während eines Ausnahmezustands würde Boscos Vater den Ratsvorsitz und die Führung der Sozietät an den Ersten Wächter des Tores und an sie verlieren. »Und danach müssen sämtliche Mitglieder der Sozietät erfahren, in welcher Gefahr Tikanum schwebt.«
»In welcher Gefahr schwebt Tikanum denn?«, protestierte Boscos Vater.
Kaum einer reagierte noch darauf. Stattdessen wurde abgestimmt. Eine knappe Mehrheit war für die Ausrufung des Ausnahmezustands.
»Vielleicht hat Bosco recht.« Der Erste Wächter des Tores seufzte tief. »Vielleicht sollten wir uns wirklich auf einen Kampf vorbereiten.«
»Kommt es zum Kampf, können wir niemals bestehen gegen den Eisernen und seine brutalen Barbaren«, sagte der alte Ratsherr mit weinerlicher Stimme. »Wir müssen die Anderen um Hilfe bitten.«
Alle Augenpaare richteten sich auf die Meisterin. »Wie oft habe ich schon versucht, mit ihnen in Verbindung zu treten«, sagte Tarsina, und es klang nicht sehr hoffnungsvoll.
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