Die Tochter Der Goldzeit
»Vergeblich. Doch wenn ihr wollt, werde ich es erneut versuchen. Der nächste Vollmond wäre ein günstiger Zeitpunkt. Wer begleitet mich nach Pugium zur Zeitfuge?«
Kapitel 9
Später, wenn sie an die ersten Wochen ihrer Gefangenschaft zurückdachte, erinnerte sie sich vor allem an Träume. Nur wenn sie träumte, spürte sie damals, dass sie noch lebte.
Anfangs träumte sie oft von Grittana. Öfter noch als von Janner, fast jede Nacht eigentlich. Häufig flüsterte Grittana ihr einfach nur ins Ohr - tröstliche Worte, zärtliche Worte, Worte sogar, die sie zum Lachen brachten. Sie vergaß die meisten, doch wenn sie aufwachte, war jedes Mal das Fieber gesunken und der Schmerz klopfte weniger brennend in ihren Gliedern.
Manchmal watete sie an der Seite der Meisterin durch die Brandung des Sees, oder sie schlenderten über die Lichtung unterhalb des Torwaldes. Sie sprachen dann über die bevorstehende Reise oder über Menschen aus Altbergen, die ihr nahestanden, über ihren Bruder Friedjan und ihren Vater Tondobar zum Beispiel. Und natürlich über Janner. Doch mehr als die geliebten Gesichter erinnerte sie selten, wenn am Morgen der Gestank und das allgegenwärtige Stimmengewirr in ihren Schlaf drangen und sie die Augen aufschlug.
Einmal jedoch rief Grittana ihr im Traum einen Satz zu, den sie nie vergaß. Viele Winter später noch, als sie an der Lichterburg erneut dem Tod ins Auge sehen musste, hörte sie ihn. In diesem Traum sollte sie sterben, weil sie ihren Auftrag nicht erfüllt hatte. Nach dem Urteilsspruch führte man sie auf den alten Staudamm. Keiner aus dem nahen Altbergen stand ihr bei. Auf der dem Stausee abgewandten Seite der Staumauer stürzte man sie in die Tiefe. Die Angst wollte ihr das Herz zersprengen, während sie dem Bergfluss entgegenstürzte. Sie fiel und fiel und fiel. Plötzlich schwebte Grittana neben ihr und rief: »Du bist Katanja von Altbergen, und du wirst leben!«
Als sie aus diesem Traum hochfuhr, stand einer vor ihrer Pritsche.
Oft, wenn sie die Augen aufschlug damals, stand oder kniete da jemand im Halbdunkeln. Sie fieberte ja wochenlang, und die Wärterinnen des Sklavenhändlers mussten sie tränken, mussten ihr ständig nasskalte Tücher um die Waden wickeln und ihre feuchten Decken gegen trockene austauschen. Später stand manchmal auch einer der Sklavenjäger vor ihrem Lager und starrte sie gierig an.
Der in jener Nacht vor ihrem Lager stand, erschien ihr fremd.
Vor dem Gitter am Eingang des Kellergewölbes brannte eine Fackel. Doch deren Lichtschein war zu matt, um die Finsternis in dem weitläufigen Kerker zu durchdringen. So sah sie nur die Umrisse der rätselhaften Gestalt. Die war klein und merkwürdig krumm. Ohne sich zu rühren, verharrte sie vor Katanjas Lager und schien sie zu betrachten. Irgendwann drehte sie sich um und schaukelte davon. Katanja aber lag wach, lauschte ihrem klopfenden Herzen, lauschte ins Halbdunkle: Viele schnarchten, jemand wimmerte, jemand rief im Schlaf. Draußen vor dem Gitter knallten die Würfel der Wächter auf den Steinboden; einer fluchte, einer lachte heiser.
Sie wunderte sich, denn hätten ihr nach dem Albtraum und der unheimlichen Erscheinung nicht Angst und Grauen den Atem abschnüren müssen? Nichts davon. Du bist Katanja von Altbergen, und du wirst leben!, raunte die Stimme der Meisterin in ihr fieberndes Hirn. Etwas wie Zuversicht erfüllte sie in dieser Nacht und verließ sie erst Tage später wieder, als das Fieber zurückkam.
Diesmal packte es sie, um zu bleiben, und wenn es doch einmal von ihr abließ, dann nur, um bald darauf mit noch größerer Hitze über sie herzufallen. Das Fieber brannte ihr die Lebenskraft aus den Gliedern. Manchmal zitterte sie so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und die Pritsche knarrte. Zwischen den Schüttelfrostanfällen hüllten die Wärterinnen ihren nackten Körper in Tücher ein, die sie zuvor in Eiswasser getunkt hatten. Wenn die Fieberschwaden sich für kurze Zeit lichteten, sah sie in die Gesichter der Frauen, die sie tränkten und trockneten: besorgte, gleichgültige oder harte Gesichter. »Vergesst sie«, hörte sie eine Stimme sagen. »Wir mühen uns vergeblich.« Und eine andere seufzte: »Sie ist höchstens achtzehn.« Und dann wieder die erste: »Vergesst sie trotzdem, sie wird sterben.«
Manchmal schreckte die Kälte der Eiswickel sie aus fiebriger Betäubung, manchmal bitterer Geschmack von Tinkturen, die man ihr einflößte. Einmal riss eine hohe, weinerliche
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