Die Tochter der Hexe
fragte Agnes besorgt.
«Mach dir keine Sorgen, mein Schatz, es geht schon wieder.» Zu Marusch sagte sie leise: «Das muss ein Zufall sein, ganz bestimmt.»
Marusch nickte. «Setz dich an die frische Luft und ruh dich aus. Ich gehe mit Tilman und Niklas noch einmal in die Stadt. Du wirst verstehen, dass ich das Angebot von diesem Hofer nicht abschlagen kann.»
Eine Stunde später kamen sie alle drei voll bepackt zurück.
«Das gibt ein Festessen», jubelte Antonia, als sie ihrer Mutter beim Auspacken half. Auf der Decke, die sie im Gras ausgebreitet hatten, landeten nach und nach kalter Braten, geräucherter Speck in Sauerkraut, eine Platte mit gebackenen Eiern und Bohnen, kleine Stücke von Nusskuchen und jede Menge Brot.
Schweigend saß Marthe-Marie dabei. Sie wagte nicht, MaruschFragen zu stellen, und Marusch ihrerseits gab keinerlei Erklärung ab. Erst am Abend, als sie sich schlafen legten, konnte sich Marthe-Marie nicht länger zurückhalten.
«Hast du mehr erfahren über diese Familie?»
«Benedikt ist der Älteste, er hat noch eine Schwester und zwei Brüder. Er arbeitet bei seinem Vater, der eine florierende Kunstschlosserei betreibt. Der Sohn wird sie übernehmen, sobald er den Meisterbrief hat.»
Marthe-Marie schluckte. «Hast du gefragt, woher seine Familie stammt?»
«Ich habe überhaupt nichts gefragt. Was ich weiß, hat der junge Hofer erzählt. Übrigens habe ich seinen Vater gesehen, er kam kurz in die Küche.»
«Und?»
«Ein überaus freundlicher alter Mann, genau wie sein Sohn. Er hat mich so höflich begrüßt, als sei ich eine Bürgersfrau. Und er hat ganz ungewöhnliche Augen: eines ist blau, eines ist braun.»
Den ganzen nächsten Tag verbrachte Marthe-Marie am Ufer des nahen Flusses, eingehüllt in einen dicken Wollmantel von Diego, denn es war wieder empfindlich kühl geworden. In ihrem Kopf setzte sie immer wieder die Einzelheiten zusammen, die sie erfahren hatte. Benedikt Hofers mochte es viele geben, nicht aber einen, der von Beruf Schlosser war und verschiedenfarbene Augen hatte. Ihr leibhaftiger Vater lebte also in Ravensburg und ahnte nicht, dass sich seine Tochter vor den Toren dieser Stadt in einem Gauklerlager befand. Ahnte nicht einmal, dass er überhaupt noch eine zweite Tochter hatte. Und ein kleines Enkelkind. Sie wünschte, sie wäre nie an diesen Punkt gelangt, denn nun stand ihr eine Entscheidung bevor, die sie mehr Kraft kostete als alle Entscheidungen zuvor. War das das Ziel ihrer Reise?
Am nächsten Morgen nahm sie ein Bad in der eiskalten Schussen, schrubbte sich Hände und Hals mit ihrem letzten Stück Bimsstein und frisierte sorgfältig ihr Haar. Dann suchte sie Leibchen, Rock und Schürze heraus, die ihr am wenigsten verschlissen erschienen. Anschließend wiederholte sie diese Prozedur mit einer heftig sich wehrenden Agnes.
«Ich will mich nicht in dem kalten Wasser waschen», maulte das Mädchen und begann zu heulen, als Marthe-Marie ihr mit dem Kamm durch das widerborstige Haar fuhr und bunte Bänder einflocht.
«Gib jetzt Ruhe. Wir gehen zu dem freundlichen Mann, der uns so viel zu essen geschenkt hat, da können wir nicht wie die Lumpensammler aussehen.»
Nach einem letzten Moment des Zögerns machte sie sich auf den Weg. Gleich hinter dem Stadttor traf sie auf einen freundlichen Knecht des Heilig-Geist-Spitals, der ihr den Weg zum Lederhaus wies. Von dort fragte sie sich weiter durch zum Wohnhaus der Hofers. Es lag dicht beim Marienplatz und war zwar schmal, aber wohl erst vor kurzem frisch hergerichtet worden und besaß zur Straße hin einen prächtigen, zweistöckigen Erker. Hier wohnten angesehene, durchaus wohlhabende Bürger – das erkannte Marthe-Marie auf den ersten Blick. Unwillkürlich musterte sie ihre Tochter in dem alten Umhang, der längst jede Farbe verloren hatte, sah ihre nackten Beine, die in viel zu großen Holzpantinen steckten. An ihre eigene Kleidung wollte sie gar nicht erst denken.
Beklommen schlug sie den Ring eines kunstvoll gearbeiteten Pferdekopfs gegen die Tür.
Eine Dienstmagd öffnete.
«Ist der junge Herr Hofer im Hause?»
Die Frau betrachtete sie und antwortete nach einigem Zögern. «Wartet hier. Er ist in der Werkstatt.»
Benedikt Hofer schien sich aufrichtig zu freuen, sie zu sehen. «Geht es Euch wieder besser?»
«Ja, danke. Verzeiht, wenn ich Euch bei der Arbeit störe. Nicht dass Ihr denkt, ich komme, um zu betteln, es ist –» Sie stockte.
«Ich weiß, dass Ihr keine Bettlerin seid»,
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