Die Tochter der Hexe
entgegnete er ruhig. «Ich denke auch, dass Ihr keine Gauklerin seid.»
«Wie kommt Ihr darauf?»
«Eure Art. Für eine Gauklerin seid Ihr zu wenig vorwitzig, für eine Bettlerin zu wenig unterwürfig. Aber tretet doch ein mit Eurer Kleinen.»
«Ich wollte eigentlich mit Eurem Herrn Vater sprechen.»
Jetzt war es heraus. Es gab keinen Weg mehr zurück.
«Dann kommt erst recht herein. Er wird sich freuen, Euch endlich kennen zu lernen.»
«Endlich kennen zu lernen?» Verdutzt sah ihn Marthe-Marie an.
«Nun ja», entgegnete der junge Hofer verlegen. «Er war mit dabei, als wir Euch neulich vor dem Seelhaus gesehen haben, und daraufhin hat er mich gebeten, Ausschau nach Euch zu halten und Euch anzusprechen, falls unsere Wege sich kreuzen würden. Und bei diesem Geizkragen von Weißbeck fand ich schließlich eine gute Gelegenheit.»
Verunsichert folgte sie ihm die Treppe hinauf. Er klopfte kurz an eine mit Leder beschlagene Tür, die er gleich darauf öffnete. Der Raum, der sich in den mit Fenstern besetzten Erker schmiegte, war hell und mit einigen wenigen Möbelstücken behaglich eingerichtet, von denen ein einziges nur sehr kostbar wirkte: eine Edelholzanrichte, in meisterhafter italienischer Furniertechnik gearbeitet, wie sie es aus dem Hause ihrer Zieheltern kannte. Vor dem größten Fenster saß in einem Lehnstuhl der Hausherr, auf dem Tischchen neben sich die Lutherbibel, in der er wohl gerade gelesen hatte.
«Hier ist Besuch, Vater.»
Neugierig sah der alte Mann auf, dann erhob er sich erstaunlichbehände und reichte ihr die Hand. Trotz seines Alters, das um Mund und Augen zahllose Falten hinterlassen hatte, wirkte sein Gesicht jungenhaft. Vielleicht lag es an dem vollen Haar und den lebhaften Augen, von denen eines tatsächlich braun, eines tiefblau war. Das also war ihr Vater! Sie holte tief Luft.
«Ich bin Marthe-Marie Mangoltin aus Konstanz, das ist meine Tochter Agnes. Zunächst möchte ich mich bedanken», unter seinem forschenden Blick begann sie zu stottern, «bedanken für die wunderbaren Gaben, die Ihr uns habt zukommen lassen – ich meine, den Spielleuten vor der Stadt, unseren Kindern – nach diesem schrecklichen Winter –» Plötzlich hatte aller Mut sie verlassen. «Dann will ich Euch nicht weiter stören. Behüt Euch Gott und habt nochmals vielen Dank.»
Sie senkte den Blick und wandte sich zur Tür.
«Nein, wartet, junge Frau.»
Er gab seinem Sohn ein Zeichen, und Benedikt Hofer verließ den Raum.
«Bleibt bitte noch einen Augenblick.» Er beugte sich zu Agnes hinunter. «Und du bist die kleine Agnes? Wie schön – genau so hieß meine selige Ahn. Möchtest du ein Stück Kuchen?»
Agnes nickte schüchtern.
«Nun denn.» Er ging zur Tür und rief die Dienstmagd herein. «Nimm die kleine Agnes mit in die Küche und gib ihr etwas Gutes zu essen und zu trinken. Vielleicht kann sie dir ja auch ein wenig zur Hand gehen.» Er blinzelte der Magd zu.
«Und Ihr setzt Euch zu mir und erzählt.»
«Vielleicht ist es nicht recht, dass ich gekommen bin.» Ihre eigene Stimme klang ihr plötzlich fremd. «Und ich hätte es sicher nicht gewagt, wüsste ich nicht von Eurem Sohn, dass Ihr Witwer seid.»
Sie schwieg erschrocken. Was tat sie hier eigentlich? Platzte in das Leben einer Bürgersfamilie, die offensichtlich nicht nur wohlhabend,sondern auch zufrieden und glücklich war. Am liebsten wäre sie aufgestanden und aus der Stube gerannt, doch der alte Hofer hielt sie mit einem Blick fest, der eine Erklärung forderte. Sie las darin Hoffnung und Verwirrung zugleich.
«Wer seid Ihr?», fragte er schließlich leise.
«Ihr kanntet meine Mutter. Sie hieß Catharina Stadellmenin.»
«Also doch!»
Er wandte den Blick ab und starrte aus dem Fenster, ohne ein Wort zu sagen. Marthe-Marie saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Endlich räusperte er sich. «Catharina Stadellmenin war also deine Mutter. Aber Michael Bantzer war wohl nicht dein Vater?»
Sie schüttelte beklommen den Kopf.
Er erhob sich und ging in der Stube auf und ab. Aus der Küche hörte man das Klappern von Töpfen, dann Agnes’ helles Lachen. Als der Alte vor Marthe-Marie stehen blieb, lagen dunkle Schatten unter seinen Augen.
«Demnach ist die Kleine meine Enkeltochter?»
«Ja.»
Er ließ sich in den Lehnstuhl sinken. «Wie alt ist sie?»
Marthe-Marie musste einen Moment nachdenken. «Im Spätsommer wird sie vier.»
Wieder schwieg er. Regungslos saß er da, nur die
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