Die Tochter der Hexe
die Hand und wollte ihr wohl eine Ohrfeigeverpassen, als ihm ein Mann in den Arm fiel. Er war hoch gewachsen, sorgfältig gekleidet und um einiges jünger als Marthe-Marie.
«Schluss jetzt! Ihr solltet Euch was schämen, Weißbeck.»
Murrend schlurfte der Verkäufer hinter seine Theke zurück. Der junge Mann wandte sich Marusch und Marthe-Marie zu. Sie blickten in ein klares, offenes Gesicht mit auffallend tiefblauen Augen. Jetzt zog er seinen Hut.
«Leider seid Ihr bei diesem Kerl an den größten Geizhals Ravensburgs geraten.»
Der Bäcker drehte sich noch einmal um und brüllte: «Halt du dein Maul, Hofer Benedikt!»
Es dauerte einen schier endlosen Augenblick, bis Marthe-Maries Verstand begriffen hatte, was ihre Ohren klar und deutlich gehört hatten. Ihr Beschützer kümmerte sich nicht um den zeternden Bäcker, sondern bat die beiden Frauen zu warten und verschwand in der Menge. Marthe-Marie sah Marusch entgeistert an. «Das muss ein Zufall sein.»
Auch Marusch schien mehr als überrascht. «Du musst ihn fragen, wie sein Vater heißt.»
«Das bringe ich nicht über mich.»
«Dann tu ich’s eben.»
«Um Himmels willen, Marusch.»
«Nehmt das bitte.» Benedikt Hofer war zurück und drückte erst den beiden Mädchen, dann den Frauen ein noch warmes, mit Salzkörnern und Kümmel bestreutes Brot in die Hand. «Die besten Seelen von ganz Ravensburg.»
«Das können wir nicht annehmen», stotterte Marthe-Marie. Die Kinder kauten längst mit vollen Backen.
«Ach was.» Benedikt Hofer lachte. «Ihr gehört zu den Spielleuten draußen an der Schussen, nicht wahr?»
Marthe-Marie schämte sich plötzlich für ihre zerlumpte Kleidungin Grund und Boden, während Marusch über das ganze Gesicht strahlte. Offensichtlich gefiel ihr der junge Mann.
«Ihr seid wohl Hellseher», entgegnete sie. «Das ist meine Freundin Marthe-Marie Mangoltin mit ihrer Tochter Agnes, ich bin Maruschka aus der Walachei. Und das hier ist meine Jüngste, Lisbeth. Los, ihr beiden, bedankt euch bei dem netten Herrn.»
«Verzeiht, wenn ich so offen bin – ich habe vor ein paar Tagen an der Pforte vom Seelhaus beobachtet, wie Ihr Brot abgeholt habt, und dabei gehört, dass es Euch wohl nicht gut ergangen ist in diesem Winter. Daher möchte ich Euch einen Vorschlag machen: Meine Schwester hatte gestern ihr Hochzeitsfest, und es ist einiges Essen übrig geblieben. Kommt mit in unser Haus, unsere Magd wird Euch einen großen Korb davon einpacken.»
«Nein!» entfuhr es Marthe-Marie.
Benedikt Hofer sah sie verdutzt an, dann ging ein Lächeln über sein Gesicht. «Seht es bitte nicht als Almosen. Bei uns ist es Brauch, dass wir die Speisen, die bei großen Festen übrig sind, ins Seelhaus und ins Spital bringen. Bevor Ihr also den Umweg über das Seelhaus macht, könnt Ihr ebenso gleich mit mir kommen.»
Marthe-Marie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht war das wirklich nur ein großer Zufall, die Namen Benedikt und Hofer gab es schließlich überall im Lande. Aber wenn doch? Plötzlich hörte sie wie aus fernem Nebel des Henkerssohns Stimme: Ich weiß, dass du auf dem Weg zu ihm bist!
Verunsichert sah sie auf Agnes und Lisbeth, las in deren mageren, blassen Gesichtern, in ihren Augen, die noch größer wirkten als sonst bei Kindern, nichts anderes als grenzenlosen Hunger.
Sie gab sich einen Ruck. «Euer Vater hieß nicht zufällig ebenfalls Benedikt Hofer?»
«Er heißt noch immer so, denn er ist gesund und rüstig für sein Alter. Nur meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben.»Neugierig betrachtete er sie mit seinen strahlend blauen Augen. «Kennt Ihr meinen Vater?»
Marthe-Marie schüttelte heftig den Kopf. «Nein, nein.» Das war nicht einmal gelogen. «Ich danke Euch von Herzen für Eure Großzügigkeit, doch ich muss zurück in unser Lager, mir ist nicht wohl.»
Auch das war nicht gelogen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und sie fürchtete, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.
Marusch hielt sie fest. «Ich begleite dich. Und Euch, werter Herr, vielen Dank für das Brot.»
«Dann kommt doch später vorbei», rief er ihnen nach. «Wir wohnen gleich um die Ecke vom Lederhaus. Ich gebe der Magd auf alle Fälle Bescheid.»
Nachdem sie die Unterstadt mit ihren schmalen, einstöckigen Häuschen durchquert und das freie Feld erreicht hatten, holte Marthe-Marie tief Luft. Sie durfte diesen Gedanken, der sich wie ein Kreisel in ihrem Kopf drehte, erst gar nicht zu Ende denken.
«Wirst du jetzt auch krank?»,
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