Die Tochter der Hexe
hatten sich großzügig gezeigt: Als am Ende Tilman und Titus wie üblich auf ihren Stelzen bei den Zuschauern sammeln gingen, hatten die meisten mehr als den verlangten Schilling gegeben. Und heute Mittag hatten sie noch einmal einen Sack Geld eingestrichen, als die Musikanten und die beiden Artisten vor den Toren der Stadt auftraten, wo die Ackerbürger und Bauern des Umlandes ihre Flurumritte und Feldprozessionen begingen, wie überall am Georgitag. Anschließend hatte der Prinzipal vom Pfarrer die Pferde und Maultiere segnen lassen. Bei Pantaleons Kamel allerdings hatte sich der Geistliche geweigert. Marthe-Marie kannte diesen Brauch, denn auch ihr Vater hatte sich kein Jahr davon abhalten lassen, war doch Ritter Georg auch Schutzpatron der Soldaten.
«Und der Wanderer und Artisten», hatte Marusch am Abend erklärt. «Deshalb machen wir seit Jahren an diesem Tag unser großesFest. Und wenn die Dinge so gut laufen wie in diesem Frühjahr, ist mein Löwe besonders großzügig.»
Und wirklich hatte es der Prinzipal an nichts fehlen lassen. Mettel und Marthe-Marie hatten kräftige Gemüsebrühe gekocht, es gab einen ganzen Ochsen am Spieß und Wein und Bier in Mengen. Hungern musste an diesem Abend keiner.
Inzwischen war es dunkel geworden, im Inneren des Lagers brannte ein Kreis aus Fackeln. Diesmal sonderte sich niemand ab, alle saßen zusammen um die große Feuerstelle mit den Resten des gebratenen Ochsen. Sonntag füllte zwei Becher randvoll mit Wein und rief Jonas und Marthe-Marie heran.
«Und jetzt trinkt mit mir, ihr beiden.» Er reichte ihnen den Wein. «Ihr habt uns Glück gebracht. Seitdem ihr bei uns seid, sind unsere Beutel mehr als gestopft. Auf euch und den tapferen Ritter Georg.»
Marthe-Marie nahm einen kräftigen Schluck. Der Wein war schwer und süß, er stieg ihr gleich zu Kopf. Genau ein Jahr war es nun her, dass sie in der Kutsche ihres Ziehvaters Konstanz verlassen hatte. Und seit fast sieben Wochen war sie mit den Gauklern und Landfahrern unterwegs. In den letzten Tagen hatte sie endgültig die Scheu vor diesen Menschen verloren, im Gegenteil: Mehr und mehr war sie gebannt von ihrer ungebundenen Lebensart, die jedem seine Freiheit ließ. So wäre keiner der Fahrenden auf den Gedanken gekommen, Salome wegen ihres Buckels zu hänseln, zumal jeder gehörigen Respekt vor ihren Wahrsagekünsten hatte. Oder Valentin und Severin: Sie hatte ihren Augen kaum getraut, als sie in der ersten milden Nacht dieses Jahres beim Austreten beinahe über die beiden gestolpert wäre. Eng umschlungen lagen sie schlafend neben ihrem Karren. Gleichmütig hatte ihr Marusch später erklärt, die zwei seien ein Liebespaar. Solange sie nicht vor Fremden herumpoussierten, schere sich da keiner drum. Denn auf Sodomie stünde Tod durch Verbrennen. Oder der starke Maximus:Als Kind hatte er mit ansehen müssen, wie seine Eltern von Mordbrennern regelrecht zerfleischt worden waren, bevor ihr kleiner Hof in Flammen aufging. Es hieß, damals habe er sein Lachen verloren und mindestens die Hälfte seines Verstandes. Vor allem bei Vollmond benahm er sich oft sehr seltsam, aber die anderen nahmen seine Anwandlungen lachend oder achselzuckend hin.
Auch sie selbst fühlte sich von Leonhard Sonntags Leuten längst angenommen. Wie alle anderen fieberte sie bei den Aufführungen mit, sorgte sich, wenn einer krank wurde oder sich verletzte, und genoss es, wenn sie in Gespräche einbezogen wurde. Niemals hätte sie gedacht, dass sie als Frau so viel Neues erleben und erfahren, auf solch abenteuerlichen Wegen durch die Lande reisen würde.
Jonas riss sie aus ihren Gedanken.
«Auf dein Wohl, Kunstreiterin», sagte er leise und prostete ihr zu.
«Auf dein Wohl, Maestro Ballini.»
Seine nussbraunen Augen unter den dichten Wimpern strahlten – ob vom Alkohol oder von Sonntags Lob, konnte sie nicht einschätzen. War er tatsächlich hier, um Geld für sein Studium zu verdienen? Musste er nicht irgendwann wieder zurück an die Universität?
«Ebenfalls auf euer Wohl.» Marusch setzte sich neben Marthe-Marie. «Und auf einen schönen warmen Sommer. Denn scheint am Georgitag die Sonne, gibt’s viele Äpfel. Und guten Wein.» Sie schenkte allen nach. «Und du, Jonas, verrätst mir auf der Stelle, was ich schon immer wissen wollte: Hast du in Straßburg eine Braut?»
«Nein – das heißt, doch.»
«Wie heißt sie?»
«Magdalena.»
«Ein schöner Name.» Marusch hob ihren Becher. «Dann trinken wir jetzt auf Magdalena, die sicher
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