Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz

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der mächtige Palas von Burg Geroldseck in den pastellfarbenen Maihimmel.
    Sie stiegen ein gutes Stück hangaufwärts, durch einen dichten Hain aus Tannen und Buchen, bis sich vor ihnen eine breite Lichtung auftat.
    Marthe-Marie trieb Diego an. «Los, noch ein Stück höher, bis zu dem Feldkreuz dort unter der Eiche.»
    «Du bist ja die reinste Gämse.»
    Schwer atmend ließen sie sich oben ins warme Gras fallen und genossen die herrliche Sicht. Am Hang gegenüber lag ein stattlicher Hof, quer zum Hang gebaut, das tief gezogene Walmdach wie eine schützende Haube über den Mauern. Wie hier in der Gegend üblich, wohnten Mensch und Vieh unter einem Dach: Im steinernen Unterstock der Stall, darüber die Wohnstatt mit durchgehenden Holzbalkonen und unterm Dach die Scheune, die vom Hang her mit einer Zufahrt verbunden war. Dass dort kein armer Waldbauer wohnte, bewiesen die eigene Hofkapelle und die mindestens zwei Dutzend braunweißer Kühe.
    Das Lager unten im Tal war von hier nicht zu sehen, dafür ein kleiner Marktflecken am Ufer der Kinzig. Diego deutete hinüber.
    «Das müsste Biberach sein. Von dort geht es ins Harmersbacher Tal, das einzige reichsfreie Tal in unserem Deutschland.»
    Dann erzählte er ihr, dass bereits die Römer eine Straße durch das Kinzigtal gelegt hatten, die von Straßburg bis Rottweil führte, mit behauenen Steinen gepflastert und mit Meilensteinen versehen. Und dass die Kinzigtäler seit je eifrige Jakobspilger seien.
    «Deshalb nennen sie die Milchstraße am Himmel auch Jakobsstraße.»
    «Woher weißt du das alles? Bist schon einmal im Kinzigtal gewesen?»
    «Nein, aber ich war mal in Spanien Führer einer Pilgergruppe aus Zell. Das liegt ganz in der Nähe, in eben dem Harmersbacher Tal, von dem ich gerade erzählt habe. Aber jetzt lass uns über den Rechenmeister sprechen, ja? Dein Auftritt steht natürlich im Mittelpunkt. Damit er zur Geltung kommt, muss alles ganz geheimnisvoll wirken, ich mache also allerlei Hokuspokus vorher.»
    «Ist es wahr, dass du früher als Illusionist aufgetreten bist?»
    «Ja, bis sie mich schließlich für drei Tage ins Basler Spitalsloch gesteckt haben. Mir blieb nur die Wahl, entweder wegen Magie verurteilt zu werden oder meine Tricks zu verraten. Und das zerreißt einem guten Zauberkünstler natürlich das Herz.»
    «Und was hast du getan?»
    «Alles verraten, sonst wäre ich nicht hier.»
    «Dann wird der Prinzipal dagegen sein. Ich glaube nicht, dass er Ärger mit den Bütteln will.»
    «Das überlass nur mir. Es besteht keine Gefahr, solange ich harmlose Taschenspielertricks zeige wie den Mann ohne Kopf oder die zersägte Jungfrau.»
    Marthe-Marie sah ihn entsetzt an. Diego musste grinsen.
    «Du sollst mir doch nicht alles glauben. Also: Ich beginne mitder Vorführung – ich denke, ich bringe das Kunststück mit den Eiern.»
    «Mit den Eiern?»
    «In zwei Kupferbecher lege ich je ein Ei. Der eine Becher wird mit einem schwarzen Tuch bedeckt, dann rufe ich mit tiefer Stimme: acha fara pax, mora morsa max, nehme das Tuch weg, und der Becher ist leer.»
    «Was bedeutet der Spruch?»
    «Nichts. Ich erfinde jedes Mal einen anderen. Danach lege ich ein neues Tuch über den zweiten Becher, rufe wieder irgendwelchen Unsinn, reiße das Tuch mit Schwung hoch in die Luft und wirble ein wenig mit meinem Umhang. Und siehe da: Aus dem Becher flattert ein Küken. Ich setze es zurück in den Becher, schiebe beides unter den Umhang, und ehe du dich versiehst, steht da wieder ein leerer Becher, aus dem ich ein Ei hole.»
    «Wie soll das gehen?»
    Diego lachte. «Das verrate ich nicht einmal dir. Zum Abschluss nehme ich noch einen dritten Becher hinzu, jongliere ein wenig mit allen dreien und lasse sie auf den Fingern kreisen. Dann kommt dein Auftritt. Du tauchst aus dem Hintergrund auf, in schwarzem Talar, mit Doktorhut, angeklebtem Bart und weiß geschminktem Gesicht, als ob du geradewegs einer Gruft entstiegen seiest. Ich fordere die Zuschauer auf, dir Zahlen zu nennen, die du addierst und subtrahierst. Was haben wir gesagt? Zahlen bis Eintausend?»
    «Ja.»
    «Gut. Und dann kommt die Multiplikation. Zahlen bis Fünfhundert.»
    «Nein, bis Hundert.»
    «Ach was, du schaffst das auch mit höheren Zahlen. Ab morgen fährst du bei mir auf dem Wagen mit, dann üben wir das. Leonhard wird glücklich sein, endlich wieder bei seiner Marusch sitzenzu dürfen. Kannst du eigentlich auch kniffige Zahlenfolgen wiedergeben? Zehn große Zahlen, die du in der richtigen