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Die Tochter der Hexe

Die Tochter der Hexe

Titel: Die Tochter der Hexe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
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sie im Takt der Musik. Dann hakte er sich plötzlich bei ihr unter und wirbelte sie um sich herum oder ließ eine Hand los, damit sich Marthe-Marie unter seiner erhobenen Linken drehen konnte. Marusch, die selten einen Tanz ausließ, gesellte sich mit Sonntag dazu, und auf ein Zeichen Diegos hin wurde die Musik schneller und schneller, bis sie alle vier außer Atem auf eine Bank sanken. Diego legte den Arm um Marthe-Marie und zog sie an sich. Mit einem Lächeln ließ sie es geschehen.
    Der Prinzipal schnappte derweil heftig nach Luft. «Heiliger Genesius von Rom! Wollt ihr mich umbringen?»
    «Ein bisschen Bewegung schadet dir nicht, mein kleiner Löwe.» Marusch tätschelte seinen Bauch. «Dein Ranzen ist in den letzten Wochen mächtig gewachsen. Es geht dir einfach zu gut. Aber das kann sich schon morgen ändern», flüsterte sie Marthe-Marie zu und grinste breit.
    Dann würde Marusch also ihren Plan wahr machen. Niemand außer ihr und dem gutwilligen Lambert war eingeweiht. Wie Sonntag wohl reagieren würde? Müde und zufrieden schloss Marthe-Marie die Augen und lehnte ihren Kopf an Diegos Schulter. Wie herrlich das Leben sein konnte.
     
    Marthe-Marie musste sich ein Lachen verkneifen. Sie hatte sich nach ihrem Auftritt unter die Zuschauer gemischt und beobachtete gerade, wie die vornehme Bürgersfrau oben auf der Bühne abwehrend die Arme erhob, als der Tod auf sie zutänzelte. Dumpf schlugen die Trommeln, eine der Fideln erhob lautes Wehklagen, während Diego, in eng anliegendem schwarzem Kostüm mit aufgemaltem Skelett, die Frau umkreiste – und plötzlich stutzte. Jetzt erst hatte er erkannt, was von den Zuschauern niemand ahnte: Dass nicht Lambert hinter der Maske der Bürgersfrau steckte, sondern Marusch. Doch Diego war Mime genug, dass er sich augenblicklich fing und weiterspielte. Im Takt der Musik umwarb und umschmeichelte er sein neues Opfer, das sich mit schmerzverzerrtem Gesicht abwandte, bis er es schließlich mit Gewalt packte und in sein Reich des Todes zerrte. Das Publikum setzte zum Applaus an, doch schon erschienen Hand in Hand ein edler Ritter und seine Angebetete – diesmal Caspar und Severin   –, um wenig später in der Blüte ihrer Liebe vom Knochenmann dahingerafft zu werden. So ging es weiter im Totentanz, dem sich – Alt oder Jung, Arm oder Reich – keiner entziehen konnte.
    Wahrscheinlich tobte derweil Leonhard Sonntag hinter dem Bühnenvorhang über Maruschs Unverfrorenheit. Dabei war ihr Spiel virtuos gewesen, und das, obwohl sie nur wenige Male, heimlich natürlich, geprobt hatte. Und sie hatte den Zeitpunkt ihres ersten Bühnenauftritts mit Bedacht gewählt, denn in dieser Stadt, die ihnen so wohlgesinnt war, würde, selbst wenn alles herauskäme, sicher keinem von ihnen ein Haar gekrümmt. Auch wenn alle Stadtverordnungen in deutschen Landen den Frauen bei Androhung von Lasterstein und Schandmaske verboten, in Schauspielen mitzuwirken.
    Jetzt, da alle gemeinsam – darunter der Prinzipal mit bitterböser Miene – in ihrem letzten Reigen über die Bühne tanzten, dem Tod mit seiner riesigen Sense immer hinterdrein, brach endlich begeisterterBeifall los, in den Marthe-Marie gern einfiel. Da erstarrte sie vor Schreck. Nur wenige Schritte neben ihr stand Jonas.
    Ihr erster Gedanke war wegzulaufen, doch sie stand eingezwängt inmitten der Menge, und Jonas hielt sie mit seinem Blick gefangen. Er nickte ihr kaum merklich zu, dann drängte er sich seitwärts durch die Menschen, ohne die Augen von ihr zu wenden. Wie unter einem Bann folgte sie ihm bis in den Schatten der Arkaden.
    «Du gehörst jetzt zu ihnen, nicht wahr? Ich habe dich als Rechenmeister gesehen, gestern schon. Du hast also eine Heimat bei den Fahrenden gefunden. Selbst Agnes steht ja jetzt auf der Bühne, eine waschechte Gauklerfamilie seid ihr.» Er hatte schnell gesprochen, hastig, als sei ihm jemand auf den Fersen, und war dabei von einem Bein auf das andere getreten. Jetzt schwieg er und starrte zu Boden.
    Marthe-Marie konnte noch immer nicht glauben, dass Jonas vor ihr stand. Drei Monate hatten sie sich nicht mehr gesehen – es kam ihr vor wie Jahre. Sein Gesicht war schmaler als früher, die hellbraunen Haare fielen ihm wirr in die Stirn und über die unrasierten Wangen. Doch das warme Braun seiner Augen unter den dichten Wimpern und dunklen Brauen war geblieben.
    «Was machst du hier?» Sie brachte nicht mehr als ein Flüstern heraus.
    Hilflos sah er sie an, das Grübchen in seinem Kinn zitterte

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