Die Tochter der Ketzerin
sollten. Auf dem Heuboden war es schon seit einiger Zeit still, und von der letzten heruntergeworfenen Gabel voll Stroh senkte sich noch der Staub. Ich rief Tom zu, er solle nicht herumtrödeln und weiterarbeiten, erhielt jedoch keine Antwort. Wegen der Hitze war ich ungeduldig und gereizt, sodass Hannah einen Bogen um mich machte, um keinen Klaps abzubekommen. Ich beobachtete, wie sie im Stroh spielte und meiner Puppe die restlichen Haare ausriss. Da ich nicht die Kraft hatte, sie deshalb zu schelten, rief ich wieder nach Tom. Im nächsten Moment erschien sein Gesicht am Rand des Heubodens.
»Sarah, komm sofort hierher«, flüsterte er heiser. Trotz seiner Neigung, immer gleich den Teufel an die Wand zu malen, erkannte ich an seinem Tonfall, dass wirklich etwas ernsthaft im Argen lag.
»Ist er es? Will er uns holen?«, fragte ich, plötzlich von Schwindel und Panik ergriffen. Nach all dem Warten war es nun endlich so weit. Wir würden verschleppt werden, ohne viel Federlesen und ohne Familie, die uns nachwinkte. Da hörte ich ein leises Knurren aus dem Hof, wo der Kettenhund einen Eindringling ankündigte. Als ich die Leiter zum Heuboden hinaufstieg, fragte ich mich, warum er nicht wie sonst lautstark bellte. Oben angekommen, blickte ich in die Richtung, in die Tom zeigte, und entdeckte den fremden Hund auf der Straße, der wie betrunken im Zickzackkurs auf uns zugetorkelt kam. Sein Kopf war von verkrustetem Schaum bedeckt, die Zunge hing ihm zwischen den Zähnen hervor, und er keuchte fiebrig, als wäre er lange gelaufen. Der Hofhund zerrte an seiner Kette, und sein Knurren verwandelte sich in ein schrilles Wimmern. Währenddessen taumelte der Köter weiter auf unseren Kettenhund zu und blieb etwa zwanzig oder dreißig Meter vor der Scheune stehen. Er senkte den Kopf bis zum Boden, sodass der Schaum vor seinem Maul den trockenen Boden in schwarzen Morast verwandelte, und fletschte die Zähne.
Bis ein tollwütiges Tier angreift, vergeht einige Zeit, eine Frist, die nur ein paar Herzschläge oder auch mehrere Minuten dauern kann. Es ist, als verdicke die Krankheit nicht nur das Blut, sondern auch das Gehirn, sodass die Gedanken träge und unzusammenhängend ablaufen. Als ich durch die offene Tür der Scheune schaute, wurde mir klar, dass der Köter an unserem Kettenhund vorbeilaufen und Hannah angreifen könnte, bevor es mir gelang, die Leiter hinunterzuklettern.
»Tom«, flüsterte ich und wagte nicht, den Blick abzuwenden. »Wo ist die Flinte?«
Er deutete nach unten zu den Ställen, wo ich sie an einem Pfosten lehnen sah. Der Kettenhund hatte seine Kette bis aufs Äußerste gespannt und sich auf den Bauch geworfen. Nun lag er reglos da, ohne zu winseln oder sich gegen die Fessel zu stemmen, und zog die Lefzen über die Zähne. Ich hörte Hannah mit sich selbst sprechen und singen und nützte die Gelegenheit, sie rasch zum Stillsein zu mahnen. Mit gesenktem Kopf kam der Köter langsam näher und starrte mit blutunterlaufenen Augen durch die offene Tür. Er machte einen Schritt und dann noch einen. Ein raues Geräusch stieg aus seiner Kehle auf. Als er nieste, spritzte ihm der Schaum meterweit von den Lefzen. Ich hatte Angst, mich zu bewegen, da ich befürchtete, den Hund damit anzulocken, sodass er in die Scheune gestürmt kam. Gleichzeitig verfluchte ich mich mit jedem Moment, den er sich nicht bewegte, weil ich nicht einfach losrannte, um Hannah in Sicherheit zu bringen. Als der Hund noch ein paar Schritte machte, schickte ich mich an, meine Schwester zu retten.
Doch Tom hielt mich am Arm fest. »Die Zeit reicht nicht«, sagte er leise. Dann nahm er einige kleine Gegenstände aus der Tasche, die klapperten, als sie in seiner Handfläche aneinanderstießen. Er holte aus und warf einen Stein, der in hohem Bogen in die Luft flog und etwa sieben Meter hinter dem Köter landete. Er handelte, ohne zu zögern und ebenso selbstsicher, als stünde er nur an einem Flussufer und übe das Zielen. Erschrocken drehte der Hund sich nach dem Geräusch um. Tom warf noch einen Stein, der drei Meter hinter dem ersten aufkam. Knurrend stürmte der Hund auf die von dem Stein aufgewirbelte Staubwolke zu und hielt dann, schwankend und auf unsicheren Beinen, Ausschau nach seiner Beute. Im nächsten Moment sorgte etwas - vielleicht der Schatten eines vorbeifliegenden Vogels, ein dahinhuschendes Eichhörnchen oder ein im Wind raschelndes Blatt - dafür, dass er die Straße entlang davonstolperte. Während wir uns den restlichen Tag
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