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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Kalksteinhügel von England gehauenen Riesen.

    An jenem Dienstag, dem 10. August, waren neun Richter im Versammlungshaus anwesend, das man in einen Gerichtssaal verwandelt hatte. Dazu kamen die Geschworenen, die Klägerinnen, die Zeugen und außerdem so viele Schaulustige, dass erwachsene Männer einander auf dem Schoß saßen, um die Vernehmung kleiner Kinder miterleben zu können. Abgesehen von der vierjährigen Dorcas Good, gehörten wir zu den jüngsten Angeklagten. Als man uns durch die sich teilende Menschenmenge führte und wenige Meter vor der Richterbank stehen zu bleiben befahl, folgten uns neugierige Blicke. John Ballard reichte dem obersten Richter meine Puppe, und nachdem die Quittung unterschrieben war, ging er davon, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen. Es wurde viel mit Papier geraschelt, und die Richter sprachen leise miteinander. Durch halb gesenkte Wimpern schaute ich nach links und rechts, um mir ihre Gesichter einzuprägen. Das Herz in meiner Brust klopfte wie ein Hammer, und vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte, bis die Luft um mich zu vibrieren schien. Ich spürte, wie Tom näher an mich heranrückte und wie sein Arm meinen berührte.
    Die von Hannahs wenig zartfühlendem Umgang zerfledderte Puppe wurde von Richter zu Richter weitergereicht und so feierlich gemustert, dass es gar nicht zu so würdigen Männern passen wollte. Ein zittriges Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, und ich spürte, wie in meiner Furcht ihr Gefährte, ein ängstliches Lachen, aus meinem Bauch aufsteigen wollte. Um es zu unterdrücken, presste ich die Hand vor den Mund. Es war dasselbe unwillkommene Lachen, das wegen der Kapriolen des schwarzen Jungen im Versammlungshaus von Andover aus mir herausgebrochen war. Nun drohte es, mich in Gegenwart der Männer, die mit einem Wort mein Leben beenden konnten, in eine kichernde Schwachsinnige zu verwandeln. Als ich rechts von mir Tumult hörte und mich umdrehte, sah ich eine Gruppe junger Frauen und Mädchen dastehen. Sie schienen Höllenqualen zu leiden, hatten die Hände wie festgenagelt auf die Münder geschlagen, jammerten und stöhnten und versuchten, durch die Finger mühsam Worte hervorzustoßen.
    »Sie will uns zum Schweigen bringen«, keuchte eines der Mädchen. »Sie will verhindern, dass wir aussagen. Oh, meine Zunge, meine Zunge brennt so sehr.«
    Ich wandte mich wieder den Richtern zu. »Wie lange bist du schon eine Hexe?«, fragte der oberste Richter John Hathorne, der Mann, der meine Mutter zum Tode durch den Strang verurteilt hatte, mit finsterer Miene.
    Im ersten Moment konnte ich weder antworten noch die Hand vom Mund nehmen, weshalb er seine Frage wiederholte. Er senkte den Kopf und sprach ganz langsam, als hätte er es mit einer Geistesschwachen zu tun: »Wie lange bist du schon eine Hexe?«
    Ich nahm die Hand vom Mund. »Seit ich sechs Jahre alt bin«, erwiderte ich. Auf der Richterbank wurde im Chor aufgeseufzt. Doch sämtliche Gespräche wurden rasch unterbunden, damit ja niemandem ein Wort entging.
    »Wie alt bist du?«, erkundigte sich John Hathorne.
    »Fast elf.« Da ich Toms Blick auf mir spürte, bemühte ich mich seinetwillen um eine unbewegte Miene.
    Der Richter hielt kurz inne, damit der Gerichtsschreiber meine Antworten auf ein Stück Papier kritzeln konnte. »Wer hat dich zur Hexe gemacht?«, brüllte er da so plötzlich, als wollte er die Wahrheit aus mir herausholen, indem er mich überrumpelte.
    Mit vor Angst weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an, öffnete die Lippen, um nach Luft zu schnappen, und brachte keinen Ton heraus. Ich war darauf vorbereitet gewesen, ihnen jedes x-beliebige Märchen über meine eigene Schuld aufzutischen - ich flöge auf einer Stange, könne meine Zehen im Wind krümmen, büke Brot für den Hexenaltar und tanzte auf den Gräbern ihrer Mütter. Mit dieser Frage jedoch hatte ich noch nicht gerechnet, und obwohl ich wusste, welche Antwort von mir erwartet wurde, konnte ich nicht sprechen. Es war, als stünde ich auf einer hohen Klippe über dem Ozean. Die Felswand hinter mir war zu steil, um sie hinaufzuklettern, und zu springen wagte ich ebenfalls nicht, weil unten gefährliche Strudel lauerten. Das Schweigen dauerte immer länger, und ich hörte, wie die Mädchen neben mir unruhig wurden. Nur zu gerne hätten sie an meiner Stelle ein, zwei oder drei Namen genannt, damit das Gericht diese mit pechschwarzer Tinte auf dem wartenden Pergament festhalten konnte. Da spürte ich, wie Tom mir etwas

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