Die Tochter der Ketzerin
tiefer in mein Umschlagtuch, fest entschlossen, nie Geschäfte mit der Frau des Sheriffs zu machen, ganz gleich, wie schwach vor Hunger ich auch sein mochte.
Der Nachmittag brachte keinen Besuch von meinem Vater, und es gelang mir nur selten, einen Platz am Gitter zu ergattern, um mit meiner Mutter zu sprechen. Während die Tage verstrichen, wuchs meine Angst, und die Worte »sieben Tage, noch sieben Tage« gingen mir immer wieder im Kopf herum. Trotz meines Schwurs nahm ich mir vor, der Frau des Sheriffs jedes Kleidungsstück, das ich besaß, zu überlassen, wenn ich dafür nur zehn Minuten lang in die Zelle meiner Mutter durfte. Als ich über den Flur zur Männerzelle hinüberrief und mich bei Richard nach Andrew erkundigte, herrschte eine Weile Schweigen. »Andrew schlägt sich wacker«, erwiderte er schließlich. »Aber es geht ihm heute schlechter als gestern. Seine Wunde hat sich entzündet, und ich fürchte, er hat eine Blutvergiftung. Ohne ärztliche Behandlung …« Er hielt inne, sodass ich mir selbst ausmalen musste, was aus Andrew werden sollte, falls er kein sauberes Wasser zum Auswaschen seiner Wunden und keine Salbe bekam, die ein Ausbreiten des Giftes verhindete.
Es wurde Nacht. Tom und ich verspeisten die letzten harten Brotreste und tranken den Rest Wasser aus unserem Wasserschlauch. Es war wärmer geworden, und trotz meiner Sorgen fiel ich rasch in einen traumlosen Schlaf. Irgendwann spät in der Nacht hörte ich die Männer in ihrer Zelle laut nach dem Sheriff rufen. Obwohl sie unablässig schrien, dauerte es einige Stunden, bis seine Schritte die Treppe herunterpolterten. Er wohnte zwar mit seiner Frau in den oberen Etagen, wäre aber nie vor Morgengrauen heruntergekommen, solange in den Zellen kein Feuer ausbrach und Rauch durch die Ritzen in den Bodendielen in seine Räume waberte. Die Männerzelle wurde geöffnet, und Stimmen flehten um Hilfe. Bald ging die Tür zu unserer Zelle auf, und Richard und ein älterer Mann erschienen auf der Schwelle. Sie trugen eine zusammengesackte Gestalt zwischen sich, und als sie den Kranken weiter in die Zelle schleppten und ins Stroh legten, erkannte ich, dass es Andrew war. Ich klammerte mich an Richard, doch der Sheriff zog ihn sofort wieder hinaus und sperrte ihn ein. Kurz darauf kehrte er zurück und wandte sich an Tom und mich. »Der Arzt kommt immer samstags. Wenn der Junge um zehn Uhr noch lebt, wird er ihn sich ansehen. Da das Licht hier besser ist, kann er bis dahin bleiben.«
Einige Frauen halfen uns, Andrew das Gesicht mit ein paar Tropfen des kostbaren Wassers aus dem allgemeinen Fass abzuwaschen und seine Kleidung zu lockern. Da man ihm die Handschellen aufgebogen und abgenommen hatte, waren seine Hände frei. Wenn man mit seinem Überleben gerechnet hätte, hätte man die Eisen sicher nicht entfernt. Wegen des hohen Fiebers war sein Gesicht so dunkelrot wie Hirschleber, während seine Pockennarben weiß hervortraten. Als wir seine Hemdsärmel hochzogen, stockte mir vor Schreck der Atem, denn am rechten Handgelenk, wo er während der Folterung gefesselt worden war, befand sich eine schwärende Wunde, aus der eine gelbliche Flüssigkeit austrat. Ein hellroter Streifen verlief unter der Haut den Arm hinauf. Eine der älteren Frauen schnupperte an der Wunde.
»Blutvergiftung«, stellte sie fest. »Wenn der rote Streifen erst über die Schulter hinausgeht …« Sie verstummte kopfschüttelnd. »Falls der Arm nicht abgenommen wird, stirbt der Junge.«
»Und falls er doch abgenommen wird, auch«, flüsterte eine andere.
»Arm abgenommen, Arm abgenommen«, hallten die Worte in meinem Kopf wider, doch ich verstand erst, als ich das Entsetzen bemerkte, das sich auf Toms Miene zeigte.
Wir blieben bei Andrew, bis der Arzt erschien. Er war ein kleiner hagerer Mann, der uns verscheuchte wie einen Schwarm Hühner. Dann hob er Andrews Arm, musterte den roten Strich und schüttelte dabei ständig den Kopf. Anschließend drehte er sich zu mir um. »Dein Bruder, der lange Kerl da drüben in der Zelle, hat mir versprochen, dass ich für die Behandlung Bargeld bekomme.« Ich starrte ihn verständnislos an, doch Tom sagte: »Mein Vater wird bezahlen, wenn er kommt.«
»Gut«, entgegnete der Arzt. »Dann bin ich heute Abend zurück. Der Arm muss abgenommen werden, und zwar sofort. Aber denkt daran, ich erwarte Bezahlung, ganz gleich, ob der Junge überlebt oder nicht.« Als er aufstand und sich zum Gehen anschickte, betrachtete ich Andrews Gesicht und
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