Die Tochter der Ketzerin
Widersacher den Strohklumpen geradewegs gegen Brust und Gesicht schleuderte. Die Wirkung war, als hätte Tom ihn mit einer vollen Ladung Schrot erwischt, denn der Arzt stieß einen lauten Fluch aus, sprang auf und versuchte, sich zu säubern. Sein schwarzer Mantel, das Wahrzeichen seines Berufs, und das weiße Leinenhemd wiesen dunkle, übelriechende Flecken auf. Denn das Stroh war von den Ausscheidungen der Frauen durchsetzt, die von Krankheit und Hunger zu geschwächt waren, um rechtzeitig die Toiletteneimer zu erreichen. Also hatte Tom nicht lange suchen müssen.
Wütend stampfte der Arzt mit dem Fuß auf. »Du kleiner Dreckskerl. Schau, was du getan hast«, brüllte er.
»Ja, und die Scheiße lässt sich nicht mehr rauswaschen.« Als wir die laute Stimme hörten, drehten wir uns erstaunt um und erkannten die Greisin, die Goodwife Faulkner davon abgeraten hatte, der Frau des Sheriffs ihr Umschlagtuch zu überlassen. Sie war zwar gebrechlich, ging gebeugt und litt an einem starken Husten, musterte den Arzt jedoch belustigt aus scharfen Augen. Die Alte verzog den Mund zu einem zahnlosen Lächeln und fügte hinzu: »Das liegt an der Galle. Nichts macht so schlimme Flecken wie die Ausscheidungen des geschändeten Körpers einer betrogenen Frau. Jetzt müssen Sie wohl einen ganzen Korb voller Körperteile abhacken, um sich wieder einen so schönen neuen Mantel kaufen zu können.« Der Arzt wich so entsetzt vor ihr zurück, als hätte sie die Pest.
Der Sheriff riss die Zellentür auf. »Am besten gehen Sie jetzt. Bei diesen Leuten ist alle Mühe vergeblich.«
Der Arzt sammelte seine Gerätschaften ein und wandte sich noch einmal an uns. »Euer Bruder wird tot sein, bevor die Sonne aufgeht«, verkündete er. Stumm saßen wir vor dem reglosen Andrew und waren zu benommen, um etwas zu erwidern, sodass ihm das Umdrehen des Schlüssels im Schloss als Antwort genügen musste. Ich schlief schlecht und wachte immer wieder auf. Doch jedes Mal, wenn ich die Augen aufschlug, sah ich Tom, wie er neben Andrew kniete, seine Hand hielt, ihm die Stirn mit einem Lappen abtupfte oder ihm Wasser einflößte. Andrew wurde weiterhin vom Fieber geschüttelt und schlief unruhig. Immer wieder schob Tom vorsichtig den Ärmel seines Bruders hoch, um festzustellen, wie weit sich der rote Strich schon in Richtung Herz vorangearbeitet hatte. Am Sonntag, kurz vor Morgengrauen, wurde ich von Andrews Stimme geweckt. Ich dachte, dass er wieder phantasierte, denn Tom hatte lauschend den Kopf gesenkt. Als ich durch das Stroh zu ihnen hinüberkroch, stellte ich fest, dass Andrews Augen merkwürdig milchig aussahen. Seine Lippen waren rissig und bluteten. Aber seine Worte klangen klar und vernünftig.
Im nächsten Moment hob er den Kopf ein wenig. »Richard hat versprochen, dass wir im Herbst alle zusammen auf die Jagd gehen«, sagte er. »Er will mich mit der Flinte schießen lassen, wenn ich vorsichtig bin. Da ich jetzt meinen Arm behalten darf, werde ich sicher ein so guter Schütze wie Vater.«
»Natürlich kommst du an die Reihe. Und du wirst das größte Auerhuhn in den Kolonien erlegen.« Tom strich Andrew das Haar aus der Stirn, woraufhin dieser lächelte und wieder die Augen schloss. Sein Kopf sank zur Seite, und sein Atem wurde so langsam, bis mir von dem Versuch, mich seinem Rhythmus anzupassen, schwindelte. Kurz vor Morgengrauen verabschiedete ich mich von Andrew und schlief ein. Ich hatte versucht, Mutters Rat zu befolgen und ihm zu sagen, dass ich ihn liebte und ihn vermissen würde. Es sei so schrecklich für mich, ihn nicht retten und nichts gegen seine Schmerzen tun zu können. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich seine Anwesenheit stets für selbstverständlich genommen und ihm nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte als unserem Vieh. Meistens hatte ich ihn nur herumkommandiert und ihn zur Arbeit angehalten. Nun bereute ich es, dass ich nicht netter und geduldiger mit ihm gewesen war, denn schließlich war er die Gutmütigkeit in Person. Sobald ich die Augen schloss, begann ich zu träumen und sah Andrew am Ufer eines Flusses stehen. Offenbar war es Frühling, denn die Sonne schien hell und in der Luft lag ein gelblicher Dunst, der alle Gräser und Blumen so undeutlich und verschwommen wirken ließ, als seien sie aus Butter geformt. Andrew trug Vaters lange Flinte über der Schulter und hatte die Arme um Tom und Richard gelegt. Als er aufblickte, lag ein breites Lächeln auf seinem freundlichen Mondgesicht, als habe
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