Die Tochter der Ketzerin
Zahn. Oh, mein Gott, mein Zahn«, wimmerte sie. Trotz der flehenden Bitten um Ruhe und sogar einiger deftiger Flüche jammerte sie immer weiter. Da die Nacht kalt geworden war, wickelte ich mein Umschlagtuch fest um mich. Als ich Tom ansah, sagte mir sein regelmäßiger Atem, dass er tief und fest schlief. Das erbärmliche Schreien dauerte etwa eine Stunde lang an, bis eine andere Frau der Leidenden eine Flüssigkeit aus einer Flasche in den Mund träufelte. Bald verwandelte sich das Klagen in ein leises Winseln, bis die Kranke schließlich eingeschlafen war.
Überall im Stroh hörte ich Geraschel und erkannte kurz ein eng beisammenstehendes, dunkles, funkelndes Augenpaar und eine spitze Schnauze. Das Tier beobachtete mich, denn es witterte offenbar das Brot, das ich in meiner Schürze versteckt hatte. Als ich nach ihm trat, verkroch es sich tiefer im Stroh, verschwand aber nicht. Erst nach einem zweiten, noch heftigeren Tritt huschte es davon. Ich schlief unruhig, bis die erste Morgendämmerung die Zelle so weit erhellte, dass ich die Gesichter der Frauen um mich herum besser erkennen konnte. Eine nach der anderen schlug die Augen auf. Manche schmerzerfüllt, andere verzweifelt, viele um Erlösung betend und einige schicksalsergeben. All diesen Ehefrauen, Müttern und Schwestern stand ein weiterer grauenhafter Tag im Gefängnis bevor. Nach bestem Wissen und Gewissen hatten sie Seite an Seite mit ihren Nachbarn gebetet, gearbeitet und einander bei der Geburt ihrer Kinder geholfen. Nun verriet mir ihr fassungsloser Blick, dass es ihnen einfach nicht in den Kopf wollte, warum eben diese Nachbarn sie nun angezeigt, ins Gefängnis geworfen und offenbar vergessen hatten.
Einige der Frauen waren so tief gesunken, dass sie sich schamlos auf den Latrineneimer setzten und sich überall kratzten, ohne auf ihre Kleidung oder auf Sitte und Anstand zu achten oder sich gar die Zeit zu nehmen, ihre Schürzen glattzustreichen, ihre Mieder zu schnüren und ihre Strümpfe geradezurücken. Die meisten jedoch bemühten sich um Reinlichkeit, indem sie sich die Gesichter mit dem Ärmel abwischten oder sich mit dem Saum ihrer Schürzen die Zähne putzten, Anstrengungen, die ebenso heldenhaft wie anrührend waren. Alle teilten, was sie hatten. Ein zerbrochener Kamm wurde herumgereicht wie eine heilige Reliquie. Wer wunde Stellen unter den Eisen hatte, wurde mit einem Klecks Salbe behandelt. So mancher Unterrock war zerrissen worden, um damit offene Wunden zu verbinden. Für die Frauen im gebärfähigen Alter, die ihre monatliche Regel bekamen, gab es weder Lammwolle noch weiche Lederriemen, sodass viele junge Mädchen vor Scham ihre Röcke hinten zusammenhielten, um die Blutflecken zu verbergen. Im nächsten Moment bemerkte ich eine Frau, die die Runde machte und um Essen für die Frauen bat, die keine Angehörigen hatten oder deren Familien zu arm waren, immer wieder hier zu erscheinen und zumindest ein Stückchen Brot durch die Gitterstäbe zu stecken. Die Frau hieß Dorcas Hoar und war in Beverly festgenommen und im April ins Gefängnis geworfen worden. Trotz ihres hohen Alters und ihres Hinkens hielt sie sich würdevoll. Als sie sich an mich und Tom wandte, malte sich Mitgefühl in ihrem Blick. Dennoch senkte ich angesichts ihrer ausgestreckten Hand die Augen und murmelte, wir hätten nichts zu geben. Ich spürte, wie sie mich musterte, und errötete heftig, weil ich gelogen hatte. Doch sie tätschelte mir nur den Kopf und meinte: »Gott segne und erhalte dich, mein Kind.« Mit diesen Worten ging sie zur nächsten und zur übernächsten Frau, bis sie ein paar Krumen beisammenhatte, um sie zu verteilen.
Ich drehte mich zur Wand, steckte heimlich die Hand unter die Schürze, brach ein Stückchen Brot ab und rollte es zwischen den Fingern, damit es kleiner wurde. Dann hielt ich die Hand vors Gesicht, wie um ein Gähnen zu unterdrücken, schob die Brotkugel in den Mund, kaute sie, bis sie flüssig war, und schluckte sie dann hinunter. Da mein Magen dadurch zum Leben erwachte und laut knurrte, aß ich noch ein Stück, dachte mir jedoch, dass es vermutlich besser gewesen wäre, gar nichts zu mir zu nehmen, denn das winzige Bröckchen ließ mich den bohrenden Hunger nur umso stärker spüren. Ich stieß Tom an, gab ihm ein Stück Brot und stand dann auf, um den Toiletteneimer aufzusuchen und mir die verkrampften Beine zu vertreten. An jedem Ende der Zelle stand ein Eimer. Der in unserer Nähe war übergelaufen, sodass der Boden feucht
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