Die Tochter der Ketzerin
glänzte, weshalb ich mich zur anderen Seite der Zelle vortastete. Wegen der schweren Ketten an meinen Handgelenken kam ich nur mühsam voran. Da ich zu Boden blickte, um nicht versehentlich über ein Bein zu stolpern oder auf eine Hand zu treten, sah ich anfangs die Gesichter der Frauen nicht, die ich am Vorabend in der Dunkelheit nicht hatte erkennen können. Als ich mich dem Eimer näherte, sah ich, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die Tante sitzen. Und bei ihr, den Kopf auf ihren Schoß gebettet, war Margaret.
Die Freude über dieses Wiedersehen war so groß, dass mir die Knie nachgaben. »Oh«, stieß ich hervor, sodass die Frauen um mich herum die Köpfe hoben. »Tante …«, fügte ich mit Tränen in den Augen hinzu und streckte die Hand nach ihr aus. Im nächten Moment stolperte ich über irgendetwas, sodass eine Frau mich stützen musste. Doch das Lächeln auf meinem Gesicht gefror schlagartig, denn obwohl ich zweifellos die Schwester meiner Mutter vor mir hatte, malten sich in den Augen, die mich ansahen, Zorn und Ablehnung. »Tante, ich bin es, Sarah«, wiederholte ich. Aber ihr Blick verhärtete sich nur umso mehr, und sie legte schützend den Arm um Margaret. Die Ketten an den Handgelenken der Tante hingen vor Margarets Gesicht und warfen ringförmige Schatten auf ihre Wangen. Margaret selbst schaute mich nicht an, sondern starrte ins Leere. Nur ihre Lippen bewegten sich leicht, als spräche sie mit der Luft. Auch wenn sie mich ganz sicher wahrgenommen hatte, tat sie so, als wäre ich nicht vorhanden. Wie benommen stand ich noch eine Weile da und starrte auf meine Schuhe. »Husch«, hörte ich die Tante da sagen, als wolle sie einen Hund oder eine Ratte von ihrer Schwelle vertreiben. Als ich den Kopf hob, wedelte sie abwehrend mit ihrer freien Hand. »Husch«, wiederholte sie. Das Klirren ihrer Ketten hallte durch die Stille. Ich machte kehrt und taumelte unter Tränen zurück zu Tom. Als ich mich, das Kinn an die Brust gedrückt und stoßweise atmend, umdrehte, stellte ich fest, dass viele den Blick abwendeten. Offenbar empfanden sie mein Weinen als peinlicher und schamloser als öffentlich den Toiletteneimer zu benutzen.
Der Mittag nahte, und bevor die Angehörigen in den Flur gelassen wurden, losten die Gefangenen aus, wer nach oben in den Hof gehen durfte, um den Toiletteneimer auszuleeren, denn diese Pflicht war mit der Gelegenheit verbunden, sich die Beine zu vertreten und frische Luft zu schnappen. Zuerst brachten zwei Frauen aus unserer Zelle unsere Eimer nach oben. Anschließend kümmerte sich jemand aus der Männerzelle um den dortigen Eimer und um den der zum Tode verurteilten Frauen, die nie ins Freie durften. Man befürchtete nämlich, sie könnten einfach davonfliegen, über die Dächer entfliehen oder ihre Geister ausschicken, um die Bürger von Salem weiter zu martern. Da Tom und ich noch so jung und außerdem Neulinge waren, wurden wir nicht an der Verlosung beteiligt. Die wenigen Angehörigen kamen und gingen, und die Nachmittagssonne erwärmte die Steine und trocknete sie, sodass sie sich von grün erst zu grau und schließlich zu weiß verfärbten. Am nächsten Morgen würden sie wieder feucht sein, und auch das Moos würde sich erneut zeigen wie frische Farbe auf Mörtel. Ich behielt die niedrige Mauer unterhalb der Gitterstäbe gut im Auge. Sobald eine Frau, die dort lehnte, aufstand, um ein wenig umherzugehen, nahm ich ihren Platz ein und rief Mutter und Richard zu. Wenn wir miteinander sprachen, streckten sie mir ihre Hände entgegen, damit ich wusste, dass ihre Stimmen so wirklich waren wie die Steine, nicht etwa Ergebnis eines Fiebertraums. Irgendwann am Nachmittag öffnete sich unsere Zellentür, und man führte Abigail Faulkner, eine Frau im Alter meiner Mutter, herein. Während sie noch blinzelnd im Dämmerlicht stand, schnappten einige Frauen aus Andover erschrocken nach Luft. »Das ist ja Reverend Danes Tochter!«, riefen sie aus. Goodwife Faulkner sollte, ebenso wie ihre Nichte Betty Johnson, zu den mehr als zwölf blutsverwandten oder angeheirateten Mitgliedern der Familie Dane gehören, die in Ketten gelegt wurden. Am 17. September wurde sie zum Tode verurteilt, allerdings begnadigt, weil sie guter Hoffnung war. Das Kind wurde erst nach ihrer Entlassung im Dezember verspätet geboren, als hätte das Grauen im Gefängnis der Mutter den Schoß versiegelt, damit der neue Erdenbürger nicht an diesem schmutzigen und trostlosen Ort das Licht der Welt erblickte. Der
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