Die Tochter der Ketzerin
bemerkte überrascht, dass er die Augen geöffnet hatte und mich ansah. Ich erkannte Schmerz und Verstehen in seinem Blick. Stundenlang saßen wir bei Andrew, um ihn zu trösten, doch er wälzte sich weinend hin und her. »Ich werde ganz brav sein, nehmt mir den Arm nicht weg, ich werde ganz brav sein«, sagte er immer wieder. Irgendwann konnte ich es nicht mehr ertragen und warf mich gegen die Gitterstäbe. »Mutter, was sollen wir tun? Was sollen wir tun?«, schrie ich verzweifelt. Die Antwort drang durch die Schatten aus der Zelle der Verurteilten und schwebte so zart und leise wie ein Rauchfähnchen über den Flur.
»Verabschiedet euch von ihm, so gut ihr könnt, Sarah. Seid bei ihm. Helft ihm, stark zu sein. Tröstet ihn.« Danach hörte ich nur noch ein Weinen, das bittere Schluchzen einer Frau, die erleben muss, dass ein Kind, das sie geboren hat, vor ihr diese Erde verlässt.
Bald verstummte Andrews Wimmern, und er fiel in den Schlaf eines Todkranken. Tom und ich stützten ihm abwechselnd den Kopf. Einige Frauen gaben uns Ratschläge oder beteten für uns in unserer Hoffnungslosigkeit. Andere kamen nur, um zu gaffen, denn es beruhigte sie offenbar, dass jemand dem Tode noch näher war als sie. Als es Mittag wurde und sich die Angehörigen der Gefangenen auf dem Flur drängten, erschien Reverend Dane, um uns Brot, Fleisch und einen kleinen Topf Suppe zu bringen. Der Sheriff ließ ihn in unsere Zelle, und als er sich über Andrew beugte, hätte ich mich am liebsten in seine Arme geworfen und ihn angefleht, mich mitzunehmen. Liebevoll legte er uns die Hände auf den Kopf und segnete uns. Dann zog er Tom und mich an sich und flüsterte, um Andrew nicht zu wecken: »Morgen kommt euer Vater mit weiteren Lebensmitteln und warmer Kleidung. Er weiß nichts von Andrews schwerer Krankheit, sonst hätte er mich heute begleitet. Ich fürchte, wenn er morgen hier ist, wird Andrew nicht mehr bei uns sein.« Andrew stöhnte und bewegte sich im Schlaf, als hätte er das Raunen gehört.
Als der Sheriff auf dem Flur rief, erhob sich der Reverend. »Vertraut in Gott, meine Kinder«, sagte er. »Andrews Leid ist bald vorüber.« Er wollte Tom die Hand auf die Schulter legen, aber dieser riss sich los. Sein Gesicht war vor Wut gerötet, und es malten sich Trotz und Ablehnung darin. Am liebsten hätte ich ihm eine Kopfnuss verabreicht, weil er den gütigen Reverend so brüskierte. Doch das Verständnis für das menschliche Herz war die größte Tugend des Geistlichen. Er blickte sich in unserer engen, düsteren Zelle um. »Der Glaube rettet uns vor der Verzweiflung, mein Sohn«, meinte er zum Abschied zu Tom. »Aber im Moment muss der Zorn wohl genügen. Ich gehe jetzt zu eurer Mutter. Soll ich ihr etwas ausrichten?«
»Sagen Sie ihr … Sagen Sie ihr …«, begann ich, aber ich wusste nicht weiter. Wie sollte ich ihr Worte des Trostes übermitteln oder selbst welche erbitten, während der Sheriff in der Tür stand und den Reverend ungeduldig zu sich winkte? Es war, als wolle man aus ein paar mageren Hölzchen und einem Strick ein Floß bauen, das seetüchtig für einen sturmgepeitschten Ozean war. Mit tränennassen Augen sah ich den Reverend an.
Er umfasste meine Hände. »Ich sage es ihr, Sarah, ich sage es ihr.« Dann reichte er seiner Tochter Goodwife Faulkner einen Beutel mit Lebensmitteln und betete mit den Frauen, ohne auf das ärgerliche Hüsteln des Sheriffs zu achten. Als Sheriff Corwin schließlich auf den Reverend zukam, um ihn am Arm aus der Zelle zu ziehen, erntete er dafür einen vernichtenden Blick. Ungefähr so musste der Erzengel Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies angesehen haben. Die Stunden schleppten sich dahin, es wurde Nachmittag, und Andrew glühte immer noch vor Fieber. Er murmelte vor sich hin und sprach über Dinge, die er hinter seinen zuckenden Augenlidern sah. Manchmal schrie er auf und riss die Hände hoch. Doch seine Worte waren nicht mehr die eines geistig zurückgebliebenen Jungen, sondern klar und vernünftig, als hätte das Feuer, das in seinem Körper tobte, seinen Verstand wiederhergestellt.
Bei Sonnenuntergang, flackerndes Licht drang durch die Schlitze in der Wand herein, schlug Andrew die Augen auf und sah erst mich und dann Tom an. »Welchen Tag haben wir?«, fragte er ruhig.
»Samstag«, antwortete Tom.
Andrew zog die Brauen zusammen, als rechne er die Tage nach. »Jetzt kommt bald der Arzt, oder?«
»Ja«, stieß Tom mit erstickter Stimme hervor.
»Er wird mir den Arm
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